Die Diskussion um die Lieferung des deutschen Marschflugkörpers „Taurus“ an die Ukraine hat sich in den letzten Monaten dramatisch zugespitzt. Während Befürworter auf die operative Schlagkraft des Waffensystems verweisen – etwa zur Zerstörung russischer Nachschublinien oder Kommandozentralen tief im Feindesland –, warnen Kritiker eindringlich vor einem sicherheitspolitischen Flächenbrand, sollte der Taurus zur gezielten Tötung Wladimir Putins eingesetzt werden. Zwei kürzlich veröffentlichte Analysen legen nun detailliert dar, welche politischen, völkerrechtlichen und strategischen Fallstricke mit einem solchen Szenario verbunden wären.
Völkerrechtlich gesehen könnte ein Angriff auf Putin legitim sein – das ist die vielleicht provokanteste und zugleich rechtlich fundierte These der Gutachten. Als Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte trägt Putin unmittelbare Verantwortung für die militärischen Operationen im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Damit wäre er, rein juristisch betrachtet, ein legitimes militärisches Ziel. Doch das humanitäre Völkerrecht verlangt mehr: Der Angriff müsste offen, ohne Heimtücke und unter sorgfältiger Abwägung von Kollateralschäden erfolgen. Der Taurus, mit seiner hohen Zielgenauigkeit, erfüllt viele dieser Voraussetzungen – vorausgesetzt, er wird korrekt eingesetzt.
Doch was passiert, wenn die Ukraine eine solche Waffe gegen den russischen Präsidenten einsetzt – und diese aus Deutschland stammt?
Hier beginnt die eigentliche politische Dynamik. Denn für Berlin wäre ein solcher Präzedenzfall toxisch. Die deutsche Vergangenheit – insbesondere die Barbarei des NS-Regimes im Krieg gegen die Sowjetunion – wirkt bis heute nach. Ein Raketenangriff auf einen russischen Präsidenten, auch wenn er formal durch Kiew ausgelöst würde, könnte von Moskau und darüber hinaus als „deutsche Rache“ interpretiert werden. Die russische Propagandamaschinerie würde keine Gelegenheit auslassen, diesen Angriff historisch aufzuladen und Deutschland als Kriegstreiber zu brandmarken. Der viel beschworene Ruf Deutschlands als Vermittler und Mahner in internationalen Krisen stünde auf dem Spiel.
Hinzu kommt: Auch technologisch birgt der Taurus Sprengkraft – im doppelten Sinne. Durch seine Tarnfähigkeit und variable Flugbahn ist er für die russische Luftabwehr schwer zu orten. Das erhöht seine Effektivität, aber auch das Eskalationsrisiko. Denn Moskau müsste auf einen solchen Schlag in Echtzeit reagieren, ohne die Herkunft eindeutig zuordnen zu können – ein gefährliches Spiel mit der nuklearen Abschreckung. Selbst wenn Berlin nichts von einem gezielten Einsatz gegen Putin wüsste, wäre eine Mitverantwortung nicht auszuschließen. Die Beweislast, dass Deutschland keinerlei Kenntnis von einem Attentatsplan hatte, wäre kaum zu erbringen – politisch wäre der Schaden ohnehin längst entstanden.
Ein weiterer Punkt der Analysen: Die innere Stabilität Russlands steht auf dem Spiel. Ein plötzlicher Machtverlust Putins könnte ein Vakuum erzeugen, das von konkurrierenden Netzwerken – Geheimdiensten, Militärs, Oligarchen – brutal ausgefochten wird. Ein Bürgerkrieg, ein Putsch oder die Etablierung eines noch radikaleren Regimes sind denkbare Folgen. Besonders alarmierend: In einer solchen Lage könnten einzelne Befehlshaber eigenmächtig auf das nukleare Arsenal zurückgreifen, um ihre Machtposition zu sichern – mit katastrophalen globalen Konsequenzen.
Ein solcher Angriff hätte zudem internationale Signalwirkung. Der Bruch mit dem bisherigen Tabu politischer Attentate könnte von anderen Staaten – etwa Iran, China oder Nordkorea – als Legitimierung verstanden werden, künftig selbst präventive Schläge gegen gegnerische Staatschefs zu führen. Die Schwelle zur Eskalation ganzer Konfliktregionen würde damit drastisch sinken.
Vor diesem Hintergrund empfehlen Experten ein Höchstmaß an Zurückhaltung. Der Taurus sollte, wenn überhaupt, ausschließlich für defensiv motivierte Einsätze genutzt werden – etwa zur Zerstörung militärischer Infrastruktur, nicht aber zur gezielten Tötung politischer Führungspersönlichkeiten. Wichtig sei zudem eine transparente Kommunikation: Deutschland und die Ukraine sollten öffentlich klarstellen, dass kein Attentat geplant ist. Parallel dazu brauche es internationale Szenarien zur Nachkriegsordnung in Russland sowie eine präzisere völkerrechtliche Definition, was als legitimes militärisches Ziel gelten darf.
Das Fazit ist eindeutig: Selbst wenn ein Angriff auf Putin völkerrechtlich gedeckt wäre, wäre eine deutsche Beteiligung – direkt oder indirekt – politisch, moralisch und strategisch unklug. Ein einzelner Raketenstart könnte ein gesamtes sicherheitspolitisches Gefüge zum Einsturz bringen. Oder, wie es einer der Autoren treffend formuliert: Man kann recht haben – und dennoch töricht handeln.
In einer Welt voller Krisen, Unsicherheiten und fragilem Gleichgewicht bleibt die strategische Zurückhaltung die klügste Form von Stärke. Der Taurus ist ein Instrument militärischer Präzision – aber gerade deshalb sollte sein Einsatz politisch mit größter Sorgfalt und Weitsicht geprüft werden.
Hinweis: Dieser Blogbeitrag stellt ein Gedankenexperiment dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er dient der kritischen Auseinandersetzung mit hochkomplexen sicherheitspolitischen Fragen.