Teurer Faktor Arbeit: Warum die neuen Eurostat-Zahlen die EZB und die Politik unter Druck setzen

Die aktuellen Eurostat-Daten zu den Arbeitskosten im Euroraum sind auf den ersten Blick unspektakulär: Im zweiten Quartal 2025 legten die Kosten je Arbeitsstunde um 3,6 Prozent zu, in der gesamten EU um 4,0 Prozent. Doch der Teufel steckt im Detail. Denn diese Zahlen offenbaren nicht nur eine hartnäckige Lohn-Preis-Dynamik, sondern auch eine tieferliegende strukturelle Spaltung des Binnenmarktes – und damit ein ernstes Problem für die europäische Geld- und Wirtschaftspolitik.

Zunächst die nüchternen Fakten: Die Löhne und Gehälter stiegen im Euroraum um 3,7 Prozent, die Lohnnebenkosten um 3,4 Prozent. Besonders kräftig fiel der Anstieg in den personalintensiven Sektoren aus: Im Baugewerbe verteuerten sich die Arbeitsstunden um 4,7 Prozent, im Dienstleistungssektor um 4,3 Prozent. Selbst die Industrie, traditionell kostendisziplinierter, verzeichnete ein Plus von 3,3 Prozent. Damit liegt das Lohnwachstum deutlich über jenem Niveau, das mit einem Inflationsziel von „nahe, aber unter zwei Prozent“ kompatibel wäre – sofern die Produktivität nicht massiv steigt. Doch davon ist bislang nichts zu sehen.

Genau hier beginnt das Problem für die Europäische Zentralbank. Wer gehofft hatte, dass die Zinswende im kommenden Jahr schneller und entschiedener ausfallen könnte, muss nun umdenken. Eine Arbeitskosteninflation von dreieinhalb bis vier Prozent bedeutet, dass die Kerninflation im Dienstleistungssektor noch lange „sticky“ bleibt – also hartnäckig und träge. Für die EZB heißt das: Zinssenkungen ja, aber vorsichtig und zögerlich. Wer den Fuß zu früh vom Bremspedal nimmt, riskiert eine neue Lohn-Preis-Spirale. „Höher-für-länger“ bleibt das Mantra, nicht „schnell-runter“.

Doch damit nicht genug: Die Eurostat-Tabelle zeigt eine Union der zwei Geschwindigkeiten. Bulgarien meldet +13,4 Prozent, Ungarn +11,0 Prozent, Rumänien +10,4 Prozent. In Frankreich dagegen liegt der Zuwachs gerade einmal bei 1,4 Prozent, in Dänemark bei 1,5 Prozent, in Malta bei 1,9 Prozent. Deutschland bewegt sich mit +3,5 Prozent im europäischen Mittelfeld, Italien liegt leicht darüber. Diese extreme Spreizung ist Sprengstoff für den Binnenmarkt: In Mittel- und Osteuropa drohen die hohen Lohnanstiege, die dortige Wettbewerbsfähigkeit zu untergraben und die Inflation weiterzutreiben. In Westeuropa hingegen wird die Nachfrage durch schwache Reallohnzuwächse gebremst – Frankreich illustriert dies eindrücklich.

Politisch bedeutet das eine heikle Gratwanderung. Fiskalpolitische Stimuli, wie sie mancherorts gefordert werden, wären in diesem Umfeld Gift: Sie würden die Nachfrage weiter anheizen und den Kostendruck verstärken. Stattdessen braucht Europa eine konsequent angebotsseitige Politik. Erstens: Abbau des Abgabenkeils, also niedrigere Lohnnebenkosten insbesondere für niedrige und mittlere Einkommen. Zweitens: Qualifizierungsoffensiven und gesteuerte Zuwanderung, um den Fachkräftemangel zu lindern. Drittens: eine Tarifpolitik, die mehr Flexibilität zulässt – etwa durch Einmalzahlungen oder produktivitätsgebundene Elemente, statt dauerhaft starrer Lohnsteigerungen.

Auch die Unternehmen stehen vor einer strategischen Weichenstellung. Wer glaubt, steigende Arbeitskosten einfach über höhere Preise weitergeben zu können, verkennt den globalen Wettbewerb. Kostenvorteile aus Osteuropa schmelzen dahin, während Frankreich und Dänemark durch ihre relative Lohnzurückhaltung an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen könnten. Für deutsche Firmen gilt: Produktivität muss Vorrang haben – durch Automatisierung, Digitalisierung, effizientere Prozesse. Sonst frisst die Welle steigender Dienstleistungskosten die Margen auf.

Besonders prekär ist die Lage im Bau. Mit einem Anstieg von fast fünf Prozent bei gleichzeitig hohen Finanzierungskosten wird der Wohnungsbau weiter gebremst. Politische Programme, die Nachfrage ankurbeln wollen – etwa Zuschüsse oder Kaufprämien – laufen ins Leere oder verteuern nur die Projekte. Was gebraucht wird, ist eine Entschlackung von Planung und Genehmigung, nicht noch mehr Subventionen.

Die Eurostat-Zahlen sind ein Warnsignal. Sie zeigen, dass Europa sich die Illusion eines raschen Übergangs in eine Phase niedriger Zinsen und stabiler Preise nicht leisten kann. Zu hartnäckig ist der Kostendruck, zu ungleich die Entwicklung zwischen den Mitgliedstaaten. Wenn die EZB jetzt zu früh nachgibt, verspielt sie Glaubwürdigkeit. Wenn die Politik weiter auf Nachfrage setzt, befeuert sie den Inflationsmotor.

Europa steht damit vor einer unbequemen Wahrheit: Arbeit wird teurer, Produktivität wächst nicht im selben Tempo, und die Kosten spreizen sich regional immer stärker. Die einzige Antwort darauf kann eine Politik sein, die die Angebotsseite stärkt – nicht durch billiges Geld und Subventionen, sondern durch Strukturreformen und Effizienzsteigerung. Alles andere wäre eine Einladung zur nächsten Krise.


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