Wer die Debattenlandschaft der Bundesrepublik aufmerksam verfolgt, begegnet einem Begriff mit wachsender Frequenz: „unsere Demokratie“. Politiker, Kommentatoren und Funktionsträger bedienen sich dieser Formel, wenn sie Bedrohungen abwehren oder Zusammenhalt beschwören wollen. Was zunächst wie ein harmloser Ausdruck der Zugehörigkeit klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als rhetorisches Instrument mit ambivalenter Wirkung – ein Instrument, das ebenso Gemeinschaft stiften wie Opposition delegitimieren kann.
Das Possessivpronomen „unsere“ ist hier entscheidend. Es suggeriert eine kollektive Eigentümerschaft, eine gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwesen. Doch genau an dieser Stelle lauert der Widerspruch. Denn wer definiert eigentlich, wer zu diesem „Wir“ gehört? Und wer wird – bewusst oder unbewusst – ausgeschlossen? Sobald der Begriff in den Händen von Politikern als normative Waffe auftaucht, verwandelt er sich vom Integrationssignal in einen Kampfbegriff.
Besonders linke und grüne Politiker bedienen sich dieses Ausdrucks mit einer auffälligen Regelmäßigkeit. Das hat strategische Gründe: Wer „unsere Demokratie“ beschwört, setzt sich selbst in den Rang des Verteidigers der Ordnung und drängt Andersdenkende in die Rolle potenzieller Gefährder. Kritiker bestimmter Maßnahmen – ob im Bereich Migration, Klima oder Außenpolitik – geraten so schnell in den Verdacht, nicht nur politische Gegner, sondern Gegner der Demokratie zu sein. Auf diese Weise wird die Grenze zwischen legitimer Opposition und tatsächlicher Verfassungsfeindlichkeit verwischt. Der Diskursraum verengt sich.
Doch man sollte nicht der Versuchung erliegen, diese Sprachfigur ausschließlich einem politischen Lager zuzuschreiben. Auch konservative Parteien greifen auf das Pathos der „unsrigen“ Demokratie zurück, wenn es darum geht, gesellschaftliche Stabilität zu beschwören oder staatliche Institutionen vor Angriffen zu schützen. Damit wird deutlich: Der Begriff hat längst Eingang in das gesamtpolitische Vokabular gefunden. Genau darin liegt die Gefahr – je selbstverständlicher er gebraucht wird, desto weniger fällt auf, dass er demokratisch problematisch sein kann.
Die Bundesrepublik ist als „wehrhafte Demokratie“ konzipiert. Sie muss sich gegen radikale Angriffe von innen schützen können, ohne dabei in autoritäre Reflexe zu verfallen. Der Schutzmechanismus ist legitim – doch er verlangt scharfe Grenzziehung. Wenn staatliche Institutionen etwa die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung“ definieren, bewegt man sich auf dünnem Eis. Der Grat zwischen notwendiger Abwehr und politischer Stigmatisierung ist schmal. Wer das Etikett „gegen unsere Demokratie“ verteilt, verfügt damit über ein Instrument, um missliebige Stimmen moralisch zu entwerten, noch bevor ihre Argumente Gehör finden.
Insofern erinnert die Formel an einen Eigentumsanspruch. Sie verwandelt das abstrakte Ordnungsprinzip der Demokratie in eine Art exklusives Gut, über das bestimmte Gruppen verfügen und andere nicht. Doch Demokratie ist kein Besitz, sondern ein Verfahren: freie Wahlen, Gewaltenteilung, Grundrechte, die Anerkennung politischer Konkurrenz. Gerade diese prozeduralen Elemente drohen im Schatten der identitätsstiftenden Formel „unsere Demokratie“ unsichtbar zu werden. Statt Regeln und Institutionen in den Mittelpunkt zu stellen, wird ein Gefühl von Zugehörigkeit beschworen – und damit zugleich die Möglichkeit, Abweichler auszuschließen.
Ein bürgerlich-liberaler Standpunkt sollte daher zweierlei betonen. Erstens: Demokratie lebt vom Streit, auch vom scharfen und unbequemen. Wer diesen Streit moralisch unterbindet, schwächt das System mehr, als seine Gegner es vermögen. Zweitens: Die Sprache der Demokratie sollte nüchtern bleiben. Sie braucht keine Pathosformeln, sondern Vertrauen in die Verfahren. Wer von „unserer Demokratie“ spricht, sollte sehr genau wissen, ob er einladet oder ausgrenzt.
Die Formel mag kurzfristig mobilisieren, sie kann aber langfristig Vertrauen zerstören. Wenn immer mehr Bürger das Gefühl entwickeln, dass ihre Kritik an Regierungspolitik als Angriff auf „unsere Demokratie“ etikettiert wird, wenden sie sich ab – und genau das schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Demokratie verliert nicht durch Oppositionäre, sondern durch Sprachfiguren, die Opposition pauschal verdächtig machen.
Der öffentliche Diskurs wäre besser beraten, wenn er auf die Eigentumssprache verzichtet und sich auf die Verfahrenssprache besinnt. Demokratie ist nicht „unsere“, sie ist für alle da – auch für jene, die unbequem, laut oder querdenkend auftreten. Wer sie wirklich verteidigen will, sollte sich weniger auf moralische Besitzanzeigen stützen, sondern auf die unerschütterlichen Prinzipien: freie Rede, rechtsstaatliche Kontrolle und den Respekt vor der politischen Konkurrenz.