Der Begriff „verfassungsfeindlich“ spielt im deutschen Rechtssystem eine zentrale Rolle bei der Bewertung politischer Akteure und deren Vereinbarkeit mit der demokratischen Grundordnung. Dabei ist die rechtliche Definition präzise und keineswegs deckungsgleich mit der umgangssprachlichen Verwendung. Die Einstufung als verfassungsfeindlich erfolgt nach strengen Kriterien und kann weitreichende Konsequenzen haben. Entgegen einer verbreiteten Annahme reicht bloße Kritik an einzelnen Verfassungselementen jedoch nicht aus, um als verfassungsfeindlich zu gelten – vielmehr müssen aktive Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung nachgewiesen werden.
Definition und rechtliche Grundlagen der Verfassungsfeindlichkeit
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Schutzgut
Im Zentrum des Konzepts der Verfassungsfeindlichkeit steht die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) als besonders geschütztes Rechtsgut. Diese umfasst nicht die gesamte Verfassung, sondern konzentriert sich auf zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat unverzichtbar sind. Zu diesen Grundprinzipien zählen:
- „Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung“
- Die Volkssouveränität
- Die Gewaltenteilung
- Die Verantwortlichkeit der Regierung
- Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
- Die Unabhängigkeit der Gerichte
- Das Mehrparteienprinzip
- Die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass die FDGO nicht mit der verfassungsmäßigen Ordnung in ihrer Gesamtheit gleichzusetzen ist. Vielmehr erfordere der Begriff der FDGO eine Fokussierung auf wenige, essentielle Grundprinzipien, die für einen freiheitlichen Verfassungsstaat unentbehrlich sind.
Unterschied zwischen Verfassungstreue und Verfassungsfeindlichkeit
Eine wichtige rechtliche Unterscheidung besteht zwischen mangelnder Verfassungstreue und tatsächlicher Verfassungsfeindlichkeit. Mit wenigen Ausnahmen, etwa für Beamte, existiert keine generelle Pflicht zur Verfassungstreue. Bürgerinnen und Bürger dürfen durchaus Zweifel an einzelnen Elementen der Verfassung haben und diese auch artikulieren. Die Grenze wird erst dort gezogen, wo es sich nicht mehr um eine bloße Meinung handelt, sondern um das konkrete Vorhaben, die FDGO zu beeinträchtigen oder zu beseitigen.
Kriterien für die Einstufung von Einzelpersonen als verfassungsfeindlich
Rechtliche Voraussetzungen
Bei Einzelpersonen können gemäß § 3 Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) Bestrebungen gegen die FDGO vorliegen, selbst wenn sie nicht in oder für einen Personenzusammenschluss handeln. Entscheidend ist, dass ihre Aktivitäten über bloße Meinungsäußerungen hinausgehen und auf eine aktive Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzielen.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spricht von verfassungsfeindlichen Bestrebungen, wenn konkrete Handlungen darauf ausgerichtet sind, Elemente der FDGO zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dies kann sich beispielsweise in der Planung von Anschlägen oder anderen Aktivitäten manifestieren, die über eine legitime politische Meinungsäußerung hinausgehen.
Rolle des Verfassungsschutzes bei der Beobachtung
Die primäre Aufgabe des Verfassungsschutzes liegt in der Sammlung und Auswertung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen. Der Verfassungsschutz erstellt auf dieser Grundlage Berichte, die beispielsweise Reichsbürger, Linksextremismus und islamistischen Terrorismus thematisieren. Die Einstufung als „verfassungsfeindlich“ erfolgt somit zunächst durch das Bundesamt für Verfassungsschutz oder dessen Landesbehörden.
Verfassungsfeindlichkeit bei politischen Parteien
Besondere Kriterien für Parteien
Für politische Parteien gelten besondere Kriterien bei der Beurteilung ihrer möglichen Verfassungswidrigkeit. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien verfassungswidrig, „wenn sie nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“.
Entscheidend ist jedoch, dass es nicht ausreicht, wenn eine Partei die FDGO lediglich ablehnt oder ihr alternative Prinzipien entgegenstellt. Vielmehr muss eine „aktiv-kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung“ hinzukommen. Die Partei muss also planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen und letztlich diese Ordnung beseitigen wollen.
Diese Anforderung wurde bereits im KPD-Verbotsurteil von 1956 formuliert: „Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen. Sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen.“
Das Parteiverbotsverfahren
Über die Verfassungswidrigkeit einer Partei entscheidet ausschließlich das Bundesverfassungsgericht nach Art. 21 Abs. 2 GG und §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG. Der Weg bis zu einem Parteiverbot ist jedoch lang und mit hohen rechtlichen Hürden verbunden. Zunächst erfolgt in der Regel eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz, der prüft, ob tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen.
Historische Beispiele
Ein prägnantes Beispiel für die hohen Anforderungen an ein Parteiverbot ist der Fall der NPD. Am 17. Januar 2017 lehnte das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Verbot der NPD ab. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass zwar das Ziel der NPD die Beseitigung der FDGO sei, es jedoch „an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht fehle, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt“. Die Partei sei „zu weit von demokratisch legitimierter Gestaltungsmacht entfernt“.
Dieser Fall verdeutlicht, dass für ein Parteiverbot nicht nur die verfassungsfeindliche Ausrichtung, sondern auch eine realistische Möglichkeit der Umsetzung dieser Ziele bestehen muss.
Rechtliche Konsequenzen verfassungsfeindlicher Bestrebungen
Maßnahmen gegen Einzelpersonen
Für Einzelpersonen, deren Aktivitäten als verfassungsfeindlich eingestuft werden, können verschiedene rechtliche Konsequenzen folgen:
- Beobachtung durch den Verfassungsschutz: Dies umfasst die Sammlung und Auswertung von Informationen über die betreffende Person und ihre Aktivitäten.
- Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden: Das Bundesverfassungsschutzgesetz sieht in §§ 21 und 22 die Möglichkeit vor, Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen an Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben.
- Strafverfolgung: Bei Straftaten, die aus verfassungsfeindlichen Bestrebungen heraus begangen werden, kann strafrechtliche Verfolgung erfolgen.
- Berufliche Konsequenzen: Insbesondere im öffentlichen Dienst können verfassungsfeindliche Aktivitäten zu dienstrechtlichen Konsequenzen führen, gestützt auf den Radikalenerlass von 1972 und den Adenauer-Erlass von 1950.
Maßnahmen gegen politische Parteien
Für verfassungswidrige politische Parteien ist die ultimative Konsequenz das Verbot durch das Bundesverfassungsgericht. Der Weg dorthin umfasst jedoch mehrere Stufen:
- Einstufung als „Prüffall“: Dies bedeutet, dass der Verfassungsschutz erste Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen sieht und weitere Informationen sammelt.
- Einstufung als „Verdachtsfall“: Hier liegen bereits „ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen“ vor, was eine intensivere Beobachtung rechtfertigt.
- Einstufung als „erwiesen rechtsextremistisches Beobachtungsobjekt“: In diesem Fall geht der Verfassungsschutz von einer erwiesenen verfassungsfeindlichen Ausrichtung aus.
- Parteiverbotsverfahren: Als letzte Konsequenz kann ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt werden, der jedoch nur unter strengen Voraussetzungen Erfolg hat.
Überwachung durch den Verfassungsschutz
Das Bundesamt für Verfassungsschutz und seine Landesbehörden sind die Hauptakteure bei der Überwachung verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Sie haben gemäß § 3 BVerfSchG den Auftrag, Informationen zu sammeln und auszuwerten über:
- Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
- Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes
- Bestrebungen, die durch Gewalt auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden
Bei einer „im Einzelfall bestehenden Gefahr“ ist das Bundesamt für Verfassungsschutz verpflichtet, diese Informationen an die zuständigen Stellen weiterzuleiten.
Aktuelle Fälle und Entwicklungen
Einstufung der AfD als Verdachtsfall
Ein aktuelles Beispiel für die Anwendung des Konzepts der Verfassungsfeindlichkeit ist der Fall der Alternative für Deutschland (AfD). Im Jahr 2019 wurde die Partei zunächst als „Prüffall“ eingestuft, zwei Jahre später, 2021, als „Verdachtsfall“. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass „ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei“ vorliegen.
Für die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative (JA), stellte der Verfassungsschutzbericht 2021 fest, dass sie „gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes“ verstoße und „im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ stehe.
Bemerkenswert ist auch, dass bereits vor 2021 einige Landesverbände der AfD in verschiedenen Bundesländern als „extremistischer Verdachtsfall“ oder sogar als „erwiesen rechtsextremistisches Beobachtungsobjekt“ eingestuft wurden.
Rechtliche und gesellschaftliche Debatten
Die Einstufung politischer Akteure als verfassungsfeindlich führt regelmäßig zu intensiven rechtlichen und gesellschaftlichen Debatten. Kritiker der Einstufungen – insbesondere aus den betroffenen Organisationen – sehen darin mitunter ein „Oppositions-Unterdrückungsinstrument“, wie beispielsweise der AfD-Politiker Stephan Brandner, der den Verfassungsschutz als „Regierenden-Schutz“ bezeichnete.
Diese Spannungen verdeutlichen das grundlegende Dilemma: Einerseits muss die demokratische Grundordnung vor ihren Feinden geschützt werden, andererseits darf dieser Schutz nicht zur ungerechtfertigten Einschränkung legitimer politischer Opposition führen.
Fazit und Ausblick
Die Frage, wann eine Person oder Partei als verfassungsfeindlich einzustufen ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Entscheidend sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls und insbesondere die Frage, ob eine aktiv-kämpferische Haltung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorliegt.
Die rechtlichen Konsequenzen reichen von Beobachtung durch den Verfassungsschutz über Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden bis hin zum Parteiverbot, wobei letzteres nur unter sehr strengen Voraussetzungen möglich ist. Diese abgestufte Herangehensweise spiegelt den Grundsatz wider, dass der Schutz der Verfassung nicht zu einer übermäßigen Einschränkung der politischen Freiheit führen darf.
Das System zum Schutz der Verfassung bleibt ein Balanceakt zwischen dem Erhalt der demokratischen Grundordnung und der Gewährleistung politischer Freiheit – ein Spannungsverhältnis, das auch in Zukunft immer wieder neu austariert werden muss.