Die migrationspolitische Agenda der neuen Bundesregierung gerät ins Wanken: Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutschen Grenze für rechtswidrig erklärt. Das Urteil trifft nicht nur den Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), sondern stellt die Rechtmäßigkeit eines zentralen Wahlversprechens von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in Frage. Die politische Reaktion ist polarisiert – zwischen Verteidigung des Kurses und scharfer Kritik aus Opposition und Koalitionskreisen.
Gericht: Keine Zurückweisung ohne Verfahren
Im Mittelpunkt des Urteils steht der Fall dreier somalischer Staatsbürger, die am 9. Mai 2025 bei einer Kontrolle durch die Bundespolizei in Frankfurt (Oder) von Polen kommend in Deutschland einreisten und dort ein Asylgesuch äußerten. Die Beamten verweigerten jedoch die Einreise und wiesen sie noch am selben Tag zurück. Diese Praxis basiert auf einer Anweisung Dobrindts, der bereits am Tag seines Amtsantritts eine verschärfte Kontrolle und Zurückweisungspolitik an den Grenzen verfügte.
Das Berliner Verwaltungsgericht stellte in einem Eilentscheid klar: Eine Zurückweisung ohne vorheriges Dublin-Verfahren – also ohne Prüfung, welcher EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist – verstößt gegen geltendes Recht. Der Verweis auf eine angebliche nationale Notlage nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wurde vom Gericht verworfen – es fehle an der notwendigen konkreten Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung.
Dobrindt trotzt der Entscheidung
Ungeachtet der gerichtlichen Rüge hält Innenminister Dobrindt unbeirrt an seiner Linie fest. Die Entscheidung sei lediglich ein Einzelfall, betonte er. Man werde das Hauptsacheverfahren abwarten und bis dahin an der bestehenden Praxis festhalten. Für vulnerable Gruppen wie Schwangere oder Kinder gelte die Zurückweisung ohnehin nicht, so Dobrindt.
Auch aus der Unionsfraktion kam Rückendeckung: Alexander Throm (CDU), innenpolitischer Sprecher der Fraktion, sprach sich für die Fortführung der Maßnahmen aus. Die Entscheidung ändere nichts an der politischen Notwendigkeit, irreguläre Migration zu steuern und die Grenzen zu schützen.
Scharfe Kritik aus Opposition und Koalition
Anders die Bewertung von SPD, Grünen und Linken. SPD-Menschenrechtsbeauftragter Lars Castellucci sprach von einer „blamablen Vernachlässigung der Rechtslage“ durch das Innenministerium. Dobrindt habe es versäumt, sich mit den Nachbarstaaten abzustimmen und rechtssichere Verfahren zu etablieren. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann erklärte, der „nationale Alleingang“ der Bundesregierung sei gescheitert. Ihr Kollege Marcel Emmerich sprach gar von einem „offenen Rechtsbruch“ und forderte den sofortigen Stopp der Zurückweisungen.
Die Linkenpolitikerin Clara Bünger forderte politische Konsequenzen: „Ein Minister, der wissentlich Recht bricht, ist untragbar.“
Rechtsstaatliches Vakuum
Die juristische Bedeutung des Urteils ist klar begrenzt: Es handelt sich um eine Entscheidung im Eilverfahren, die nach § 80 des Asylgesetzes nicht anfechtbar ist. Eine grundsätzliche Klärung müsste im Hauptsacheverfahren erfolgen – mit der Möglichkeit, die Frage bis zum Bundesverwaltungsgericht oder sogar dem Europäischen Gerichtshof zu bringen. Solange jedoch keine endgültige Entscheidung vorliegt, bleibt die Lage an der Grenze rechtlich und praktisch unsicher.
Europa schaut kritisch zu
Nicht nur innerhalb Deutschlands ist das Vorgehen umstritten. Auch aus den Nachbarstaaten hagelt es Kritik. Frankreich und Polen, die direkt betroffen sind, zeigten sich bereits irritiert über das einseitige Vorgehen Berlins. Der Grünen-Politiker Helge Limburg warnte vor einer Gefährdung des europäischen Zusammenhalts: „Deutschland muss ein Interesse an stabilen Beziehungen zu seinen Nachbarn haben. Diese Politik verspielt leichtfertig Vertrauen.“
Fazit: Symbolpolitik mit rechtlichem Risiko
Die Zurückweisung von Asylsuchenden ohne Verfahren ist juristisch riskant, politisch hochumstritten und europapolitisch isolierend. Der Versuch der Bundesregierung, mit Härte gegen irreguläre Migration vorzugehen, droht an den Grundprinzipien des Rechtsstaats und der europäischen Zusammenarbeit zu scheitern. Sollte der Kurs nicht bald korrigiert werden, könnte dies nicht nur das politische Schicksal Alexander Dobrindts, sondern auch das Ansehen Deutschlands in der EU erheblich beschädigen.