Von der Masse zur Maschine: Warum die Bundeswehr der Zukunft nicht nur größer, sondern klüger werden muss

Ein anderes Thema, etwas unangenehmer, aber ich will es trotzdem ansprechen. Wir gehen im Schnitt davon aus, dass in einem Krieg beispielsweise mit Russland 800 Menschen täglich verloren gehen. Tod oder schwer verwundet. Das heißt also, irgendwo muss ja der Nachschub herkommen. Und hier stellt sich natürlich die Frage, ist das mehr an Bundeswehr im Wesentlichen dann später dafür gedacht, dass wir vorne genug Menschen hinbekommen an die Front? Gibt es sozusagen die Möglichkeit über Innovation, Technik, Drohnen, Robotik, andere Dinge unter Einsatz künstlicher Intelligenz, dieses Blut soll erst gar nicht anzulaufen, sondern ihn zu vermeiden, indem der erste Berührungskontakt im Grunde durch Technik erfolgt. Also Sie sehen da schon mal viel Luft drin.
Ralph Thiele Oberst a. D. , Militärexperte

Ralph Thieles drastische Skizze – „800 Tote oder Schwerverwundete pro Tag“ im Ernstfall – bricht mit dem verbreiteten Reflex, Verluste stillschweigend hinzunehmen. Bewusst überspitzt zwingt der ehemalige Oberst dazu, den eigentlichen Kern jeder Abschreckungs- und Verteidigungsdebatte offen zu benennen: Wer sich einbildet, Kriege mit bloßen Kopfzahlen zu gewinnen, ignoriert die industrielle Tötungsrealität moderner Gefechte.

Im Ukrainekrieg lassen sich die Folgen bereits ablesen. Seit 2022 summieren sich die ukrainischen Verluste nach westlichen Schätzungen auf weit über 300 000 Gefallene und Verwundete – russische Zahlen liegen wohl noch höher. Gerechnet auf drei Jahre ergibt, dass einen Tagesdurchschnitt im hohen dreistelligen Bereich – Thieles 800 ist also keine Fiktion, sondern eine hochgerechnete Gegenwart.

Gleichzeitig illustrieren die Schlachten am Dnipro, dass Masse ohne Technologie blind bleibt. In der Operation „Spiderweb“ etwa zerstörten 117 ukrainische Billigdrohnen im Juni 2025 mehrere strategische Bomber tief im russischen Hinterland – Kostenpunkt pro Schlagdrohne: rund 10 000 Dollar. Das Verhältnis von Aufwand zu Wirkung hat sich um Größenordnungen verschoben.

Der Siegeszug dieser „Volksbewaffnung aus der Steckdose“ folgt einer simplen Logik: Ein FPV-Quadcopter, den Kyiv inzwischen in Serie für kaum mehr als 800 Euro baut, ersetzt zwar keinen Panzer, aber er zwingt gegnerische Truppen in permanente Deckung. Die Ukraine plant für 2025 den Kauf von 4,5 Millionen solcher Kleinstsysteme – eine industrialisierte Schwarmtaktik, die selbst gut geschützte Ziele für wenige Hundert Euro gefährdet.

Russland antwortet mit dem entgegengesetzten Kalkül: billige, massenhaft einsetzbare Shahed-Drohnen kosten Moskau rund 35 000 Dollar, kommen aber im Stückpreis zehnmal günstiger als ein Marschflugkörper. Selbst wenn nur jeder zehnte Drohnenschwarm durchbricht, zahlt sich das mathematisch aus – ein lehrbuchhafter Hinweis, dass Kosten-Effizienz inzwischen wichtiger ist als Treffergenauigkeit.

Was heißt das für die „Zeitenwende“? Die politische Antwort, 100 Milliarden Euro in bestehende Strukturen zu pumpen, greift zu kurz. Berlin bestellt zwar zusätzliche Soldaten, doch parallel rüstet die Industrie längst für einen hochautomatisierten Konflikt: Start-ups wie Helsing und Stark Defence liefern KI-gesteuerte Kamikazedrohnen, die Störsignale ignorieren. Die Bundeswehr soll allein 2025 um 11 000 Dienstposten wachsen – doch die entscheidende Schlagkraft liegt in Software, nicht in Stiefeln.

Dasselbe Bild zeigt sich im Abwehrbereich: Das Counter-UAS-System ASUL erhält eine AI-Schaltzentrale, die Sensordaten in Echtzeit fusioniert und Reaktionsbefehle automatisiert. Und während Rekrutierungskapagitäten stagnieren, schult die Truppe ihre Soldaten via XR-Module, die Gefechtsabläufe binnen Minuten simulieren. Digitalisierung ersetzt keine Truppen, aber sie macht jede verfügbare Sekunde Ausbildung wertvoller.

Der ethische Rahmen wird unterdessen enger gezogen. Deutschland bekennt sich in den Vereinten Nationen zu „verantwortlicher militärischer KI“ und pocht auf durchgängige menschliche Kontrolle. Ein Einsatz ohne „human in the loop“ bleibt politisch kaum vorstellbar – doch je schneller Algorithmen entscheiden, desto schwieriger wird diese Kontrolle technisch abzusichern.

Internationale Juristen warnen deshalb vor einer gefährlichen Illusion: Technologischer Abstand könne Verluste minimieren, senke aber zugleich die Schwelle zum Waffeneinsatz. In Genf, Den Haag und auf Foren wie EuroDIG wird längst darüber gestritten, ob autonome Systeme nicht ein neues Wettrüsten der Delegationsverantwortung provozieren.

Fazit
Thieles „unangenehmes Thema“ markiert einen strategischen Wendepunkt. Wer heute noch Personalstärken als Königsweg propagiert, verkennt, dass Drohnen- und KI-Gefechte ein Kosten-und-Verlust-Paradox erzeugen: Technik kann Leben retten, macht den Krieg aber zugleich billiger und damit verführerischer. Die Bundeswehr muss deshalb zweierlei leisten – radikale Modernisierung ihrer Sensor- und Effektorkette sowie eine klar definierte, rechtlich abgesicherte Mensch-Maschine-Arbeitsteilung. Nur so lässt sich der Blutzoll wirklich senken, ohne die Büchse der Pandora vollautonomer Gewalt zu öffnen.


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