Warum die Grundsicherung einer tiefgreifenden Reform bedarf

Mit der Einführung des Bürgergeldes im Januar 2023 trat die Bundesregierung an, ein neues Kapitel in der Geschichte der sozialen Sicherung aufzuschlagen. Man versprach mehr Respekt, weniger Bürokratie, eine bessere Förderung und gerechtere Chancen. Vor allem aber wollte man die als entwürdigend empfundenen Elemente von Hartz IV hinter sich lassen – ein System, das über Jahre hinweg für soziale Kälte, Leistungskürzungen und Misstrauen gegenüber Bedürftigen stand.

Doch fast zwei Jahre nach Inkrafttreten der Reform zeigt sich: Der große Wurf ist ausgeblieben. Zwar wurden punktuelle Verbesserungen erzielt – etwa beim Schonvermögen, bei der Karenzzeit und bei der Weiterbildung – doch das zentrale Grundproblem besteht weiter: Das Bürgergeld ist ein undifferenziertes System, das zu viele Menschen in ein falsches Raster presst und dabei weder ökonomisch effizient noch sozial gerecht ist.

Ein System mit Unschärfen: Zwischen Anspruch und Realität

Das Bürgergeld ist als Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige konzipiert – also für Menschen, die arbeiten könnten, aber aktuell keine Erwerbstätigkeit ausüben. Die Idee ist, diese Menschen zu fördern, sie zu motivieren und ihnen mit gezielter Hilfe den Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu ebnen. Soweit die Theorie.

In der Praxis aber fällt eine Vielzahl von Menschen unter das Bürgergeld, die mit echter Arbeitsmarktintegration kaum oder gar nichts zu tun haben:

  • chronisch psychisch Erkrankte,
  • suchtkranke Personen ohne Therapiezugang,
  • Menschen mit multiplen sozialen Problemlagen,
  • überforderte Alleinerziehende,
  • gesundheitlich angeschlagene ältere Leistungsbezieher.

Diese Gruppen brauchen keine Vermittlung in Leiharbeitsverhältnisse, sondern medizinische, psychologische und sozialpädagogische Unterstützung. Sie gehören nicht ins Jobcenter, sondern in ein differenziertes, fürsorgliches Unterstützungssystem.

Reformbedarf: Was jetzt geschehen muss

Ein zukunftsfähiges Bürgergeld/Grundsicherung kann nur dann gerecht und wirksam sein, wenn es klar differenziert, Fehlanreize beseitigt und staatliche Fürsorge intelligent organisiert. Dazu braucht es konkrete Reformschritte:

1. Saubere Trennung zwischen Arbeitsfähigen und Hilfebedürftigen

Die Zuweisung zum Bürgergeldsystem (SGB II) darf nur noch erfolgen, wenn eine tatsächliche, reale Erwerbsfähigkeit besteht – nicht allein auf Grundlage der formalen Drei-Stunden-Regelung. Es braucht:

  • verpflichtende sozialmedizinische Gutachten zur Feststellung von Erwerbsfähigkeit,
  • regelmäßige Überprüfung bei psychischen und chronischen Erkrankungen,
  • niedrigschwellige Zugänge zur Erwerbsminderungsrente und Sozialhilfe (SGB XII).

Menschen, die faktisch nicht mehr arbeiten können, gehören nicht in die Grundsicherung für Erwerbsfähige.

2. Kommunen in die Pflicht nehmen – Anreize umkehren

Die derzeitige Finanzierung führt dazu, dass Kommunen ein Interesse haben, Menschen nicht in die Sozialhilfe zu überführen – weil diese komplett kommunal getragen wird. Der Bund hingegen trägt das Bürgergeld überwiegend.

Reformvorschlag:

  • Einführung eines Kostenverteilungsmodells, bei dem auch die Kosten für Sozialhilfe teilweise vom Bund getragen werden.
  • Umgekehrt: Belohnung der Kommunen, die medizinisch korrekt begutachten und Menschen in passende Hilfesysteme überführen.

Das verhindert, dass die Schwächsten im System aus fiskalischer Bequemlichkeit „geparkt“ werden.

3. Aufwertung und Ausbau der Sozialhilfe (SGB XII)

Die Sozialhilfe muss aus dem Schatten des Bürgergeldes heraustreten. Sie darf nicht länger als „Restkategorie“ gelten, sondern muss wieder als vollwertiges Sicherungssystem für nicht erwerbsfähige Menschen etabliert werden. Dazu gehört:

  • bessere personelle Ausstattung der Sozialämter,
  • Ausbau von Wohnprojekten, betreutem Wohnen, Eingliederungshilfen,
  • Integration medizinischer und sozialer Hilfen unter einem Dach,
  • Einführung eines Case Managements für komplexe Problemlagen.

4. Keine Gleichmacherei bei den Regelsätzen

Die Höhe der Leistungen darf nicht allein pauschal erfolgen, sondern muss sich stärker an der individuellen Lebenssituation orientieren. Beispiel:

  • Wer eine Weiterbildung absolviert oder arbeitswillig ist, sollte finanziell belohnt werden.
  • Wer sich konsequent Hilfsmaßnahmen verweigert, ohne medizinische Gründe, sollte sanktioniert werden dürfen – aber nicht pauschal, sondern verhältnismäßig und sozialverträglich.

Leistungsgerechtigkeit darf nicht durch Gleichmacherei untergraben werden.

5. Echte Arbeitsmarktförderung statt Maßnahmeschleifen

Viele Bürgergeldempfänger durchlaufen sinnlose Qualifizierungsmaßnahmen, die wenig mit dem ersten Arbeitsmarkt zu tun haben. Das ist teuer und ineffizient.

Stattdessen braucht es:

  • eine engere Verzahnung mit Betrieben, die echte Beschäftigung bieten,
  • Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, die Langzeitarbeitslose integrieren,
  • Regionale Job-Allianzen, in denen Unternehmen, Kammern, Bildungsträger und Jobcenter gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Schlussfolgerung: Ein Bürgergeld, das nicht differenziert, ist ein gescheiterter Kompromiss

Wenn der Sozialstaat glaubwürdig sein will, muss er mehr bieten als Almosen und Bürokratie. Er muss den Einzelnen sehen, unterscheiden und begleiten – nicht gleichmachen, nicht abstempeln, nicht verwalten.

Das Bürgergeld kann funktionieren – aber nur, wenn es endlich aus seiner Unschärfe befreit wird. Es braucht den Mut zur Differenzierung, den Willen zur Fürsorge und die Kraft zur Reform. Alles andere ist Etikettenschwindel auf Kosten der Schwächsten.


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