Inmitten der Debatte um mehr Transparenz im Bundestag wird erneut die Forderung laut, die Wahl des Bundeskanzlers solle künftig namentlich erfolgen. Doch bei aller berechtigten Sehnsucht nach Nachvollziehbarkeit: Wer den Schutz der geheimen Abstimmung aufgibt, gefährdet den Kern parlamentarischer Unabhängigkeit – und verkennt, wie Demokratie wirklich funktioniert.
Das freie Mandat ist keine Zierde, sondern Schutzwall. Es soll Abgeordnete davor bewahren, zu bloßen Erfüllungsgehilfen der Parteispitze zu verkommen. Die geheime Kanzlerwahl im Bundestag gibt ihnen den Raum, ohne Angst vor Repressalien oder öffentlicher Bloßstellung zu entscheiden. In einer namentlichen Abstimmung hingegen würde jeder Abweichler unweigerlich zum Dissidenten erklärt – mit allen denkbaren Konsequenzen für Karriere, Mandat und mediale Bewertung.
Dass dieses Spannungsfeld längst Realität ist, zeigte zuletzt die Abstimmung über das Sondervermögen 2025. Zahlreiche Abgeordnete, die sich zuvor kritisch geäußert hatten, stimmten am Ende – namentlich – geschlossen mit ihrer Fraktion. Ob Überzeugung oder politischer Selbsterhaltungstrieb: Es war der öffentliche Druck, der entschied. Nicht das Gewissen.
Besonders bemerkenswert ist dabei die Schieflage zwischen interner und öffentlicher Mitbestimmung: Während die SPD ihre Mitglieder online über den Koalitionsvertrag abstimmen ließ und CDU/CSU diesen zumindest im Parteivorstand diskutierten, betraf all das nicht die entscheidende Personalie – den Bundeskanzler. Über ihn durfte weder die Parteibasis noch die Öffentlichkeit mitentscheiden. Die zentrale Personalentscheidung blieb den Abgeordneten vorbehalten – die dann wiederum unter Koalitionsdisziplin und öffentlicher Beobachtung zu funktionieren hatten. Diese Konstellation schafft keine demokratische Transparenz, sondern eine Inszenierung von Mitbestimmung.
Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, dass durch namentliche Kanzlerwahlen mehr Demokratie entsteht. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Die Parlamente würden berechenbarer, linientreuer – und damit entpolitisiert. Die symbolische Kraft des freien Mandats würde der kalkulierbaren Loyalität geopfert.
Wer wirklich Demokratie stärken will, muss sich nicht für Kontrolle, sondern für Vertrauen einsetzen. Vertrauen in die Institution des Bundestages. Vertrauen in das Recht auf Abweichung. Und in das Prinzip, dass nicht jede Entscheidung öffentlich sein muss – aber jede ehrlich sein sollte.