Seit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Friedrich Merz verfolgt Deutschland eine neue Linie im Umgang mit Informationen zu Waffenlieferungen an die Ukraine: keine detaillierten Listen mehr, keine offiziellen Ankündigungen über Typ und Umfang gelieferter Systeme. Stattdessen herrscht strategisches Schweigen. Diese Kehrtwende gegenüber der Praxis der Vorgängerregierung sorgt für Empörung – insbesondere bei Grünen, Linken, Kommunisten und russlandfreundlichen Teilen der Öffentlichkeit. Doch bei nüchterner Betrachtung erweist sich der Kurswechsel als sicherheitspolitisch klug und geopolitisch notwendig.
Strategische Ambiguität: Ein Gebot militärischer Vernunft
Im Zentrum der neuen Linie steht das Prinzip der „strategischen Ambiguität“. Ziel ist es, Russland im Unklaren darüber zu lassen, welche militärischen Kapazitäten die Ukraine durch westliche Hilfe erhält. Diese Ungewissheit erschwert dem Kreml eine gezielte Gegenstrategie – ein fundamentaler Vorteil auf dem hybriden Gefechtsfeld, auf dem Russland den Informationskrieg genauso ernst nimmt wie die Schlacht an der Front.
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Makeiev, lobte die neue Strategie ausdrücklich. Seine Worte wirken wie ein Lehrbuchbeispiel für militärisches Denken: Ein Schachspieler verrät dem Gegner nicht seine nächsten Züge. Es geht also um mehr als Symbolik – es geht um reale, strategische Wirkung. Und die Ukraine, die letztlich über Sieg oder Niederlage entscheidet, ist in die Geheimhaltung eingeweiht und ausdrücklich einverstanden.
Weniger PR, mehr Schutz
Die Kritik an der Entscheidung von Friedrich Merz ist in vielen Fällen von politischer Kurzsichtigkeit geprägt. Ja, Merz hatte als Oppositionsführer mehr Transparenz gefordert. Aber Regierungsverantwortung verlangt Anpassung an neue Lagen, nicht starre Prinzipientreue. Die sicherheitspolitische Realität im Frühjahr 2025 ist eine andere als im Jahr 2022: Der Krieg ist komplexer geworden, russische Geheimdienste agieren aggressiver, Desinformationskampagnen haben zugenommen.
Jede öffentlich zugängliche Information über westliche Waffenlieferungen wird heute in Moskau in Echtzeit analysiert. Welche Transportwege genutzt werden, wann welche Waffen wo eintreffen könnten – all das kann aufseiten des Aggressors zur Planung von Sabotageakten, Luftschlägen oder Propagandakampagnen beitragen. Geheimhaltung schützt damit nicht nur die Waffen, sondern auch Menschenleben – auf ukrainischer wie auf deutscher Seite.
Vermeidung toxischer Debatten
Ein oft übersehener Nebeneffekt der neuen Praxis: Sie entzieht der innenpolitischen Debatte über Waffenlieferungen die toxischen Spitzen. Die monatelange Polarisierung rund um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern hat gezeigt, wie schnell militärische Fragen zur parteipolitischen Zerreißprobe werden. In diesem Klima sachliche Entscheidungen zu treffen, ist kaum möglich. Merz zieht hier eine klare Grenze: Entscheidungen über militärische Hilfe werden getroffen – aber nicht mehr öffentlich ausgeschlachtet. Auch dies ist Ausdruck von Führungsstärke.
Glaubwürdigkeit wird nicht an Listen gemessen
Kritiker wie der frühere ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sehen in der Geheimhaltung eine Schwächung der politischen Signalwirkung gegenüber Russland. Doch diese Argumentation greift zu kurz. Glaubwürdigkeit im internationalen Kontext entsteht nicht durch Pressemitteilungen, sondern durch verlässliches Handeln. Die Ukraine selbst bestätigt: Deutschland liefert – und zwar auf einem Niveau, das Vertrauen schafft.
Im Gegenteil: Die Rückkehr zur Verschwiegenheit kann die strategische Position Deutschlands sogar stärken. Denn Transparenz allein verhindert keinen Krieg. Abschreckung funktioniert nur, wenn der Gegner nicht weiß, was auf ihn zukommt – und sich im Zweifel immer auf das Schlimmste einstellen muss.
Fazit: Verantwortlich handeln bedeutet nicht, alles öffentlich zu machen
Friedrich Merz verfolgt mit der neuen Geheimhaltungslinie eine sicherheitslogisch begründete, international abgestimmte und von der Ukraine unterstützte Strategie. Dass sie kontrovers ist, liegt in der Natur politischer Entscheidungen von Tragweite. Doch die Verantwortung eines Kanzlers misst sich nicht an der Lautstärke des Beifalls – sondern an der Wirksamkeit seines Handelns. In diesem Sinne ist der neue Kurs keine Flucht ins Schweigen, sondern ein Bekenntnis zu kluger, pragmatischer Sicherheitspolitik im Dienste der Ukraine und der europäischen Stabilität.