Wenn kleine Summen zu großen Skandalen aufgepumpt werden

600.000 Euro Wahrheit, Millionen Gerücht

Es gibt Geschichten, die erzählen sich fast von selbst. Eine Anfrage im Europäischen Parlament, eine Antwort der Kommission, ein paar Zahlen. Sachlich betrachtet: ein Projekt, ein überschaubarer Betrag, klare Regeln. Und dann treten jene Publikationen auf, die aus nüchternen Mitteilungen der Brüsseler Bürokratie Politthriller machen: Millionen an den Spiegel! EU kauft sich ihre Hofberichterstatter! Ein gefundenes Fressen für alle, die schon immer wussten, dass „die da oben“ ihre Kritiker mundtot machen wollen.

Die Fakten: Ein Europaabgeordneter stellte im Juni 2025 eine schriftliche Frage an die EU-Kommission. Die Antwort fiel wenig spektakulär aus: Seit 2020 hat das internationale Recherchenetzwerk OCCRP rund 604.000 Euro aus Brüssel erhalten. Kein Cent ging direkt an den Spiegel. OCCRP ist ein Zusammenschluss von investigativen Journalisten weltweit, Partner sind unter anderem auch deutsche Leitmedien. Die EU finanziert also nicht den Hamburger Nachrichtenkoloss, sondern ein Projekt, das Werkzeuge, Schulungen und Rechercheplattformen bereitstellt.

Doch genau hier schlägt die Stunde des politischen Spindoktors. Was klingt langatmig und trocken – „EU-Kofinanzierung über NEXT-IJ zur Stärkung investigativer Journalistennetzwerke“ – taugt kaum für Schlagzeilen. „Mehrere Millionen für den Spiegel“ hingegen sitzt sofort. Der Kniff ist altbekannt: Man nimmt den wahren Kern, packt ein paar suggestive Adjektive dazu, dreht die Summe ein wenig nach oben und schon hat man die Story, die in einschlägigen Kreisen wie ein Lauffeuer kursiert.

Die Methode funktioniert, weil kaum jemand Lust hat, sich durch seitenlange EU-Dokumente zu arbeiten. Die Bürokratensprache mit ihren „Ko-Finanzierungen“, „Finanzregulationen“ und „Legally binding contractual agreements“ schreckt ab wie Bedienungsanleitungen von Faxgeräten. Die Quelle ist zwar vorhanden, aber wer liest sie schon? Manche Medien spekulieren darauf, dass der Verweis auf eine offizielle Antwort schon genügt, um Glaubwürdigkeit zu suggerieren. Der Leser bleibt mit dem Eindruck zurück: Da fließen riesige Summen, um unliebsame Kritiker kleinzuhalten.

Das Spiel mit den Halbwahrheiten ist dabei besonders perfide, weil es zwei Ebenen bedient. Erstens: Es füttert das Misstrauen gegenüber Institutionen wie der EU, die ohnehin als intransparent gelten. Zweitens: Es schürt Ressentiments gegenüber klassischen Leitmedien, die man als Teil eines „Systems“ brandmarken kann. Die Kombination ist hocheffektiv. Und sollte doch jemand nachhaken, kann man jederzeit darauf verweisen, dass man ja die Quelle genannt habe. Reine Meinungsfreiheit, selbstverständlich.

Natürlich darf und soll man darüber diskutieren, ob und wie weit staatliche oder supranationale Stellen Journalismus fördern sollten. Steckt in solcher Förderung nicht immer das Risiko, dass Abhängigkeiten entstehen, sei es finanziell oder mental? Ein berechtigter Diskurs. Aber er wird nicht geführt, wenn man aus 600.000 Euro „mehrere Millionen“ macht und aus einem Netzwerk wie OCCRP den „Hauslieferanten“ des Spiegel.

Die Pointe ist also bitterernst: Nicht die EU-Gelder sind der eigentliche Skandal, sondern die rhetorische Drehung, mit der aus einem kleinen Fördertopf eine Verschwörung wird. So funktioniert Desinformation im 21. Jahrhundert: Man braucht keine falschen Fakten, es reicht, die richtigen selektiv zu servieren und mit einer kräftigen Portion Misstrauen zu würzen. Am Ende bleibt das Bauchgefühl, dass „etwas nicht stimmt“.

Und genau hier liegt die Gefahr: Demokratie lebt vom Streit der Meinungen, nicht von der Verwischung der Tatsachen. Wer Quellen zitiert, ohne sie korrekt einzuordnen, bedient keine Debatte, sondern eine Erzählung. Im konkreten Fall: Die EU fördert investigativen Journalismus. Ob man das politisch gutheißt oder ablehnt, ist eine legitime Frage. Aber die Behauptung, Brüssel habe Millionen an den Spiegel überwiesen, ist schlicht falsch.

Um die 600.000 Euro geht es. Aber Millionen Gerüchte sind daraus geworden. Und das ist am Ende die eigentliche Leistung: aus wenig Geld viel Getöse zu machen.



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