Der ARD-Presseclub ist eine jener Institutionen, die sich seit Jahrzehnten im Selbstbild sonnen, Hort der Debatte und Spiegel der Demokratie zu sein. Jeden Sonntagvormittag, so die Verheißung, treffen sich gestandene Journalistinnen und Journalisten, um die großen Fragen der Zeit zu erörtern. Doch wer die Sendung regelmäßig verfolgt, könnte auf die Idee kommen, dass es sich dabei weniger um ein Streitgespräch handelt, sondern um ein Ritual der Einigkeit. Der Presseclub gleicht oft einem Chor, in dem jeder zwar seine eigene Tonlage, aber dieselbe Melodie singt.
Das fiel besonders in den Jahren der Corona-Pandemie und seit Beginn des Ukraine-Krieges auf. Dort, wo eigentlich der Streit der Argumente hätte aufblitzen müssen, herrschte bemerkenswerte Einmütigkeit. Kritische Positionen? Kaum. Abweichende Stimmen? Fehlanzeige. Stattdessen wurde ein Meinungskorridor abgesteckt, in dem sich die Gäste brav bewegten. Wer auf eine harte Kontroverse hoffte, bekam ein Nicken hier, ein „da stimme ich zu“ dort – und die wohlige Gewissheit, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Zuschauer nicht mit zu viel Pluralität verstört.
Nun ist es fast ironisch, dass ausgerechnet beim Thema Bürgergeld plötzlich echte Reibung entstand. Ein Journalist wagte, laut über Einsparungen bei den Wohnkosten zu sinnieren, woraufhin Widerspruch laut wurde. Endlich Diskussion! Allerdings nicht etwa bei Krieg und Frieden, Staatsverschuldung oder Energiepolitik, sondern bei einem innenpolitischen Detailthema. Warum? Weil es vergleichsweise ungefährlich ist. Man kann sich über Mieten und Karenzzeiten streiten, ohne den außenpolitischen Konsens zu gefährden oder die Regierungslinie grundsätzlich infrage zu stellen.
Damit zeigt sich ein Muster, das bezeichnend ist: Der Presseclub praktiziert Pluralismus dort, wo er nicht weh tut. Und er schweigt sich dort in Konsens aus, wo echte Kontroverse eigentlich unverzichtbar wäre. Man könnte es „selektiven Pluralismus“ nennen – ein bisschen Streit, damit das Format lebendig wirkt, aber nie so viel, dass die politische Mitte ins Wanken gerät.
Doch wozu braucht es dann noch ein solches Forum? Eine Diskussion ohne Dissens ist nichts weiter als eine verlängerte Pressekonferenz. Man könnte ebenso gut eine Regierungssprecherin ins Studio setzen, die die Linie erläutert, flankiert von ein paar freundlich nickenden Kollegen. Die Zuschauer bekämen denselben Erkenntnisgewinn. Diskussion lebt vom Gegenüber, von Argument und Gegenargument, von der Zumutung, sich mit einer Sichtweise auseinandersetzen zu müssen, die man selbst ablehnt.
In einer bürgerlichen Demokratie gehört genau das dazu: das Aushalten von Meinungen, die man nicht teilen mag. Doch dieser Mut fehlt oft. Stattdessen regiert die Angst, durch zu viel Abweichung Falsches zu legitimieren. Die Folge ist eine selbst auferlegte Enge des Meinungsspektrums. Und genau das erzeugt den Eindruck, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei „staatstragend“. Nicht, weil er offiziell gleichgeschaltet wäre, sondern weil er sich freiwillig diszipliniert, um nicht anzuecken.
Das Ergebnis ist paradox: Indem man kritische Stimmen ausspart, treibt man sie in jene Nischenmedien und digitalen Parallelwelten, wo sie erst recht ohne Widerspruch verhallen – oder sich radikalisieren. Wer also glaubt, man könne Pluralität dosieren wie Salz im Suppentopf, irrt. Demokratie verträgt Würze. Ohne sie schmeckt die Debatte fad.
Der Presseclub könnte eine Bühne sein, auf der sich die Konflikte unserer Gesellschaft spiegeln – ein Resonanzraum für das, was draußen tatsächlich diskutiert wird. Stattdessen ist er oft ein Wohlfühlzirkel, der vorgibt, Debatte zu inszenieren, während er Einigkeit zelebriert. Man möchte fast sagen: Hier wird nicht gestritten, sondern bestätigt.
Vielleicht liegt darin der größte Denkfehler: Man hält das Publikum für zu fragil, um Uneinigkeit zu ertragen. Dabei ist es genau das, was mündige Bürger erwarten dürfen – dass man ihnen nicht die vermeintlich richtige Meinung serviert, sondern das Ringen um Wahrheit zeigt. Wer Diskussion ohne Dissens betreibt, täuscht eine Demokratie vor, die im Kern auf Streit verzichten will. Und das ist gefährlicher als jede kritische Meinung, die man lieber draußen hält.