Die Frage, wie man unterbewertete Aktien erkennt, ist für viele Anleger von zentraler Bedeutung. Schließlich möchte niemand zu viel für eine Aktie bezahlen. Doch wie unterscheidet man zwischen günstigen und teuren Aktien? Der Aktienkurs allein gibt darüber keinen Aufschluss. Eine Aktie, die 100 Euro kostet, kann sowohl teuer als auch günstig sein, abhängig von verschiedenen Faktoren. Hier kommen Bewertungskennzahlen ins Spiel. Sie helfen uns, das Preis-Leistungs-Verhältnis von Aktien zu beurteilen. Ein gutes Verhältnis deutet auf eine günstige Bewertung hin.
Die Grundlagen der Aktienbewertung
Die wichtigste und am häufigsten verwendete Kennzahl ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Es setzt den aktuellen Kurs einer Aktie ins Verhältnis zum Gewinn pro Aktie (Earnings per Share, EPS).
Berechnung und Interpretation des KGV
Die Berechnung ist simpel: Aktienkurs / Gewinn pro Aktie. Das KGV gibt an, wie viele Jahre es theoretisch dauern würde, bis ein Unternehmen seinen aktuellen Börsenwert durch seine Gewinne wieder verdient hätte. Ein Beispiel: Eine Aktie kostet 100 Euro, der Gewinn pro Aktie beträgt 10 Euro. Das KGV liegt also bei 10 (100 / 10 = 10). Das Unternehmen bräuchte, unter der Annahme gleichbleibender Gewinne, 10 Jahre, um seinen aktuellen Börsenwert zu erwirtschaften.
Was ist eine „günstige“ Bewertung?
Grundsätzlich gilt: Bei gleichen Voraussetzungen deutet ein niedrigeres KGV auf eine günstigere Bewertung hin. Die Marktdynamik sorgt jedoch dafür, dass die Nachfrage nach „günstigen“ Aktien in der Regel steigt, was ihren Preis nach oben treibt, bis sich die Bewertungen wieder angleichen.
Das KGV im Zeitverlauf
Um ein Gefühl für die Bewertung einer Aktie zu bekommen, kann man das aktuelle KGV mit dem historischen KGV vergleichen. Liegt das aktuelle KGV unter dem historischen Durchschnitt, könnte die Aktie unterbewertet sein. Beispiel: Eine Aktie hatte in den letzten fünf Jahren ein durchschnittliches KGV von 20. Aktuell liegt das KGV bei 15. Dies könnte auf eine Unterbewertung hindeuten. Allerdings ist der historische Durchschnitt nicht immer der „faire“ Wert, da sich Unternehmen im Laufe der Zeit verändern können.
Einschränkungen der reinen KGV-Betrachtung
Die reine Betrachtung des KGV hat jedoch ihre Grenzen. Unternehmen durchlaufen verschiedene Lebenszyklen, was eine Anpassung des „fairen“ KGVs erforderlich macht. Zudem ist der Gewinn der letzten 12 Monate eine rückwärtsgerichtete Größe und spiegelt nicht zwangsläufig die zukünftige Ertragskraft wider. Auch das Gewinnwachstum spielt eine entscheidende Rolle. Ein Unternehmen mit einem höheren KGV, aber deutlich höherem Gewinnwachstum, kann trotz des scheinbar höheren Preises langfristig die bessere Investition sein.
Die Bedeutung von Wachstum
Der KGV-Vergleich allein reicht also nicht aus, wenn Unternehmen unterschiedliches Wachstum aufweisen. Nehmen wir zwei Unternehmen: Unternehmen A hat ein KGV von 15 und ein erwartetes Gewinnwachstum von 5% pro Jahr. Unternehmen B hat ein KGV von 20, aber ein erwartetes Gewinnwachstum von 15% pro Jahr. Obwohl Unternehmen B auf den ersten Blick teurer erscheint, könnte es aufgrund des höheren Wachstums langfristig die bessere Investition sein.
Eine Methode zur Berechnung des fairen Wertes
Eine Möglichkeit, den fairen Wert einer Aktie zu ermitteln, besteht darin, den maximalen Kaufpreis zu berechnen, zu dem man bereit wäre, die Aktie zu erwerben. Hierfür benötigt man folgende Daten:
- Aktueller Aktienkurs
- Gewinn je Aktie (EPS) der letzten 12 Monate
- Geschätztes Gewinnwachstum der kommenden 5 Jahre
- Faires KGV für die Zukunft (z.B. historischer Durchschnitt)
- Persönliche Zielrendite
Die Berechnung erfolgt in mehreren Schritten:
- Hochrechnen des Gewinns: Der Gewinn pro Aktie wird für die nächsten 5 Jahre mit der geschätzten Wachstumsrate hochgerechnet.
- Berechnung des zukünftigen Aktienkurses: Der hochgerechnete Gewinn in 5 Jahren wird mit dem geschätzten fairen KGV multipliziert, um einen hypothetischen zukünftigen Aktienkurs zu erhalten.
- Abdiskontierung: Der zukünftige Aktienkurs wird mit der persönlichen Zielrendite auf den heutigen Wert abgezinst.
Das Ergebnis dieser Berechnung ist der „Fair Value“ der Aktie, also der Preis, den man unter Berücksichtigung der eigenen Renditeerwartungen maximal zahlen sollte.
Anwendung der Methode am Beispiel
Nehmen wir an, der Fair Value der XYZ-Aktie wird mit dieser Methode auf 129 Dollar berechnet, der aktuelle Kurs liegt jedoch bei 139 Dollar. Demnach wäre die Aktie zum aktuellen Zeitpunkt überbewertet. Wichtig ist zu beachten, dass sich das Ergebnis schnell ändern kann, zum Beispiel durch neue Quartalszahlen oder andere Unternehmensnachrichten.
Vereinfachte Methode im Taschenrechner
Eine vereinfachte und schnellere Methode verwendet eine zusammengefasste formel:
[math]
\text{Fair Value} = \frac{\text{Gewinn} \times \text{Wachstumsrate}^5 \times \text{KGV}}{1{,}12^5}
[/math]
Diese Formel kombiniert die oben genannten Schritte in einer einzigen Berechnung. Nehmen wir wieder unser Beispiel:
- EPS: 6,15 Dollar
- Wachstumsrate: 10% (0,1)
- Faires KGV: 23
- Zielrendite: 12% (0,12)
Die Berechnung im Taschenrechner:
Schritt-für-Schritt-Anleitung:
- Startwert (Gewinn):
Nimm den aktuellen Gewinn pro Aktie, z. B. 6,15. - Wachstumsrate:
Multipliziere den Gewinn mit der Wachstumsrate, z. B. 1,1 (das entspricht 10 % Wachstum). - Hochrechnung über 5 Jahre:
Berechne den zukünftigen Gewinn nach 5 Jahren, indem du das Ergebnis aus Schritt 2 mit 1,1^5 multiplizierst.
(Das entspricht dem Wachstum über 5 Jahre.) - Multiplikation mit dem fairen KGV:
Multipliziere den zukünftigen Gewinn mit dem fairen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), z. B. 23. - Diskontierung auf den heutigen Wert:
Teile den zukünftigen Aktienkurs durch 1,12^5, um den Barwert zu erhalten.
(Hier wird der zukünftige Wert auf den heutigen Tag abgezinst, z. B. mit einer Diskontierungsrate von 12 %.) - Ergebnis:
Das Ergebnis ist der Fair Value der Aktie.
Beispielhafte Eingaben im Taschenrechner:
- 6.15 × 1.1^5 = Ergebnis
- Ergebnis × 23 = Ergebnis
- Ergebnis ÷ 1.12^5 = Ergebnis
Das Ergebnis: Der faire Wert beträgt ca. 129.26 Dollar.
Wenn du geübt bist, dauert die Berechnung tatsächlich nur wenige Sekunden!
Sicherheitsmarge
Da die Bewertungsmethode auf Schätzungen basiert und nicht exakt ist, sollte man nicht zum errechneten fairen Wert kaufen, sondern eine Sicherheitsmarge einplanen. Die Höhe der Sicherheitsmarge hängt vom Risiko der Aktie ab. Bei sicheren Aktien können 10-20% ausreichen, bei riskanteren Aktien sind 50% oder mehr empfehlenswert. Wäre das Gewinnwachstum von XYZ beispielsweise höher ausgefallen, könnte die Aktie trotz des aktuellen Kurses von 139 Dollar unterbewertet sein, wenn man eine entsprechende Sicherheitsmarge berücksichtigt.
Alternative: Die DCF-Methode
Eine weitere, komplexere Methode ist die Discounted-Cashflow-Methode (DCF). Hierbei wird der Unternehmenswert auf Basis der Summe der abdiskontierten zukünftigen Cashflows ermittelt. Die DCF-Methode ist jedoch deutlich aufwendiger, da die Schätzungen über einen längeren Zeitraum (z.B. 20 Jahre) erfolgen müssen.
Fundamentalanalyse und wichtige Hinweise
Die hier beschriebenen Methoden sind Werkzeuge der Fundamentalanalyse. Sie liefern wichtige Anhaltspunkte, sollten aber nicht die einzige Grundlage für eine Kaufentscheidung sein. Es ist entscheidend, das Unternehmen und dessen Geschäftsmodell zu verstehen. Faktoren wie Marktposition, Wettbewerbsvorteile, Managementqualität und Branchentrends sollten ebenfalls in die Analyse einfließen.
Fazit
Die Bewertung von Aktien ist ein komplexer Prozess, der mit Unsicherheiten behaftet ist. Die hier vorgestellten Methoden bieten jedoch einen guten Ausgangspunkt, um unterbewertete Aktien zu identifizieren. Durch die Kombination von Kennzahlenanalyse, Wachstumsprognosen und einer Sicherheitsmarge können Anleger ihre Chancen erhöhen, langfristig erfolgreich am Aktienmarkt zu investieren. Die vereinfachte Taschenrechner-Methode ist ein besonders nützliches Werkzeug für eine schnelle erste Einschätzung des fairen Werts einer Aktie. Dennoch ist immer zu bedenken, dass alle Ergebnisse durch neue Informationen schnell überholt sein können, weshalb eine regelmäßige Überprüfung der eigenen Investitionen unerlässlich ist.