Die Schweiz befindet sich in einer handfesten Wohnraumkrise. Die Leerstandsquote liegt nach Angaben des Bundesamts für Statistik bei lediglich 1,08 Prozent – weit unter dem als „gesund“ geltenden Wert von etwa 2 Prozent. Die Folge sind steigende Mieten, ein nahezu leergefegter Wohnungsmarkt und wachsende soziale Spannungen. Während Politik und Verwaltung nach Erklärungen suchen, wird zunehmend klar: Nicht nur Bodenknappheit und Baukosten treiben das Problem, sondern auch ein über Jahre ausgedehnter Bau- und Einspracheprozess, der das Bauen verzögert, verteuert – und in manchen Fällen gänzlich verhindert.
Drei Ursachen – ein Flaschenhals
Das Bevölkerungswachstum ist beispiellos. In nur zwei Jahrzehnten ist die Schweiz von 7,3 Millionen auf über 9 Millionen Einwohner gewachsen – ein Plus von gut 22 Prozent. Damit gehört sie im europäischen Vergleich zur Spitzengruppe. Hinzu kommt der Wandel der Haushaltsstruktur: Heute bestehen rund 70 Prozent der Haushalte aus ein oder zwei Personen, früher waren es nur etwa 40 Prozent. Das bedeutet: Mehr Menschen beanspruchen mehr Wohneinheiten, selbst wenn die Gesamtbevölkerung konstant bliebe. Gleichzeitig hinkt die Bautätigkeit hinterher. Jährlich entstehen weniger neue Wohnungen, als neue Haushalte gebildet werden – ein struktureller Angebotsmangel.
Baubewilligung – Schweizer Präzision oder Schweizer Bremsklotz?
Der Bewilligungsprozess ist in der Schweiz demokratisch aufgeladen. Sichtbare Bauvisiere sollen Transparenz schaffen, doch sie leiten auch die Phase ein, in der Nachbarn – oft weit über den direkten Kreis der Betroffenen hinaus – Einsprache erheben können. Das Einspracherecht erlaubt es, praktisch jeden Aspekt eines Projekts anzufechten: von Parkplatzfragen über Lärm bis zur ästhetischen Verträglichkeit. Selbst abgewiesene Einsprachen können über Rekurse bis vor Bundesgericht gezogen werden. Die Folge: Verzögerungen von Jahren. Eine Studie der Zürcher Kantonalbank zeigt, dass sich die Dauer von Baubewilligungsverfahren zwischen 2010 und 2022 teilweise mehr als verdoppelt hat.
Strategische Einsprachen – das stille Veto
Das Instrument, einst geschaffen zum Schutz vor Lärm, Naturzerstörung oder Rechtsverstössen, wird zunehmend strategisch genutzt – nicht selten, um Projekte schlicht zu blockieren. Bis zu 80 Prozent aller Einsprachen werden laut Experten später zurückgezogen oder abgewiesen. Die Kosten trägt in der Regel die Bauherrschaft, während die Einsprechenden kein finanzielles Risiko eingehen. Schätzungen zufolge werden dadurch jährlich 4.000 bis 5.000 Wohnungen gar nicht gebaut.
Das Raumplanungsgesetz als Brandbeschleuniger
Die 2013 angenommene Revision des Raumplanungsgesetzes sollte Zersiedelung eindämmen und die „Verdichtung nach innen“ fördern. Doch Bauen in bereits dicht besiedelten Gebieten bedeutet zwangsläufig, dass mehr Menschen unmittelbar betroffen sind – und damit steigt das Einsprachepotenzial. In der Praxis führt das zu noch mehr Konflikten und Verzögerungen.
Reform oder Stillstand?
Immer mehr Stimmen fordern nun, das Einspracherecht einzuschränken. Kernforderung: Nur wer tatsächlich persönlich und direkt betroffen ist, soll künftig Einsprache erheben können. Die Kontrolle über Bauvorschriften gehört in die Hand der Behörden, nicht in die eines faktisch unbegrenzten Nachbarschaftsvetos. Das Ziel muss eine Balance zwischen berechtigtem Schutzinteresse und dem übergeordneten öffentlichen Interesse an ausreichendem Wohnraum sein.
Fazit
Die Schweiz steht vor einer Grundsatzfrage: Will sie am derzeitigen, stark basisdemokratischen, aber blockieranfälligen System festhalten – oder ist sie bereit, die Spielregeln zu reformieren, um wieder bauen zu können? Wer weiterhin alles verhindern kann, riskiert, dass in Zukunft immer weniger gebaut wird – und Wohnen für viele zum unbezahlbaren Luxus wird.
Ein marktwirksamer, politisch gangbarer Maßnahmenmix könnte so aussehen:
1) Genehmigungsrecht entflechten, Einsprache fokussieren Das zentrale Nadelöhr ist nicht die verfügbare Fläche, sondern die Zeit bis zur rechtskräftigen Baubewilligung. Sinnvoll wäre, Einsprachen auf nachweislich persönlich Betroffene zu beschränken, Fristen und Kostentragung zu verschärfen (Kostenersatz bei offensichtlich missbräuchlichen Einsprachen), und Berufungsmöglichkeiten zu bündeln. Parallel: Digitalisierte, fristgebundene Verfahren mit „Silence is consent“ für klar regelkonforme Projekte. So wird die Baupipeline verlässlich und planbar. Die Problemlage ist dokumentiert: Häufige Einsprachen, lange Rekurswege, daraus resultierende Projektabbrüche und verteuerte Fertigstellungen verschärfen die Knappheit.
2) Zonenrecht an Transit und Arbeitsplätze koppeln: „Upzoning“ nach Lage Dichte dorthin, wo sie volkswirtschaftlich trägt: rund um Bahn- und S-Bahn-Knoten, Uni-Standorte, Spitäler, Tech-Cluster. Instrumente: Höhere Ausnützungsziffern, Höhenausnahmen in klar definierten Perimetern, Abtauschmodelle (mehr Geschosse gegen verbindliche öffentliche Räume, Kitas, Primärversorgung). Das entspricht der politisch gewollten „Verdichtung nach innen“, reduziert aber Konflikte, wenn zugleich hochwertige Stadträume entstehen.
3) Mehr Wohnungen schnell: industrialisiertes Bauen und „Bauen auf Zeit“ Serien-/Modulbau für Studenten-, Pflege- und Mitarbeitendenwohnungen mit verkürzten Bauzeiten und geringerer Baustellenbelastung; temporäre, rückbaubare Quartiere auf öffentlichem Land, wo Planfeststellungen noch laufen. So entsteht rasch Kapazität, ohne ästhetische Dauerentscheidungen zu erzwingen.
4) Bestandsverdichtung vor Abriss: Aufstockungen, Hinterhof-Infill, Dachausbau Systemische Vereinfachungen für +1 bis +2 Geschosse, wenn Statik und Brandschutz nachgewiesen sind; pauschalierte Parkraumerfordernisse (oder deren Abschaffung) in ÖV-Lagen. Das erhöht Einheiten, ohne das Ortsbild flächig zu verändern.
5) Büro-zu-Wohnungen und Mischnutzung Konversionsprogramme für strukturell leere Büroflächen; erleichterte Umnutzungen mit steuerlicher Abschreibung des Umbaus und pragmatischem Lärmschutzrecht in Kernzonen.
6) Angebotsorientierte Mietpolitik: bauen, nicht deckeln Mietregime so justieren, dass Neubauinvestitionen attraktiv bleiben: Bei echten Neubauten verlässliche Renditefenster und befristete Regulierungsprivilegien; gleichzeitig zielgenaue Unterstützung für Bedürftige über das Sozialsystem statt flächendeckender Mietpreisbremsen, die Neubau bremsen.
7) Boden mobilisieren, Preise entkoppeln Öffentliche Hand: Baurechtsvergabe statt Verkauf, mit Baupflicht und Terminen. Private: Steuerliche Vorteile bei Parzellierung/Teilung brachliegender Großgrundstücke; Bodenwertorientierung in der Grundsteuer, um „Horten“ unattraktiver zu machen.
8) Infrastruktur vorziehen und mitverdienen Beschleunigte Finanzierung von Schulen, Tram-/Busknoten, Quartierspitalsatelliten; „Value Capture“: Ein Teil der durch Aufzonung entstehenden Bodenwertgewinne fließt zweckgebunden in eben diese Infrastruktur. So sinkt die politische Gegenwehr gegen Dichte.
9) Arbeitsmigration an Wohnkapazität koppeln: ein Kapazitätsanker Die migrationspolitisch heikle, aber ehrliche Option: Ein transparenter „Housing Capacity Rule“ verknüpft die jährlichen Nettozuwanderungsziele mit nachweislich fertiggestellten Wohneinheiten (nicht nur Baubewilligungen). Ergänzend: Arbeitgeberpflichten für temporäre Werkswohnungen in Branchen mit hohem Zuzug; Kontingente priorisiert in Regionen mit freier Kapazität.
10) Leistungsorientierte Bund-Kanton-Gemeinde-Partnerschaft Der Bund setzt Anreize pro realisiertem Schlüsselprojekt (Fertigestellung, nicht Spatenstich). Kantone harmonisieren Verfahren und schaffen Musterregelwerke für Aufstockung und Umnutzung. Gemeinden erhalten zweckgebundene Mittel, wenn sie definierte Dichteziele in Transitnähe liefern.
Kritisch eingeordnet: Hochhäuser sind kein Allheilmittel. Sie sind sinnvoll an sehr gut erschlossenen Standorten und als Teil von Quartierskonzepten, nicht als punktuelle „Trophäen“. Der politische Widerstand speist sich weniger aus „Anti-Migration“, sondern aus sichtbaren Dysfunktionen bei Bauen und Infrastruktur. Wer Zuwanderung will, muss zuerst die Angebotsblockaden lösen; sonst produziert man Knappheit, Preisauftrieb und gesellschaftliche Spannungen. Genau das zeigt die heutige Praxis der innenorientierten Verdichtung: Je dichter das Umfeld, desto mehr Betroffene und desto mehr Einsprachen, mit entsprechend längeren Wartezeiten und Projektabbrüchen.
Konkrete Zielmarken für die nächsten fünf Jahre, realistisch, aber ambitioniert: Genehmigungsdauer halbieren; jährliche Fertigstellungen um zusätzliche 35 000–40 000 Einheiten stabilisieren (dies entspricht grob dem migrationsbedingten Bedarf); 60 % der neuen Einheiten im ÖV-Perimeter; mindestens 20 % durch Bestandsaufstockungen und 10 % durch Umnutzungen. So bleibt die Schweiz wirtschaftlich offen – ohne ihre Siedlungs- und Landschaftsqualitäten zu verspielen.