Die Volksrepublik China durchläuft gegenwärtig eine Phase erhöhter politischer Volatilität. Im Zentrum der Aufmerksamkeit: Xi Jinping, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), Staatspräsident und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission – kurzum: der mächtigste Mann Chinas seit Mao Zedong. Seit einigen Wochen mehren sich jedoch internationale Spekulationen über einen möglichen Machtverlust oder zumindest eine schleichende Schwächung seiner Position. Anlass geben Xi Jinpings auffällige öffentliche Abwesenheit, tiefgreifende Personalwechsel im Militär sowie strukturelle Veränderungen innerhalb der Partei. Doch wie belastbar sind diese Indizien? Und steht China tatsächlich vor einem politischen Umbruch?
Xi Jinpings Abwesenheit – nur ein gesundheitliches Intermezzo oder Ausdruck politischer Schwäche?
Seit Mitte Juni 2025 ist Xi Jinping nur noch sporadisch öffentlich aufgetreten. Besonders bemerkenswert war sein Fernbleiben vom BRICS-Gipfel in Brasilien Anfang Juli – ein Novum in seiner Präsidentschaft, das nicht nur diplomatische Beobachter irritierte. Stattdessen trat Premier Li Qiang als Vertreter der Volksrepublik auf. Die offizielle Begründung aus Peking: „terminliche Überschneidungen“. Doch in einem autoritären System, in dem Symbolik, persönliche Präsenz und politische Inszenierung elementare Herrschaftsinstrumente sind, wiegt solch ein Ausbleiben schwerer als in liberalen Demokratien.
Allerdings ist zu betonen: Xi war Ende Juni durchaus noch bei bilateralen Treffen mit den Premiers Neuseelands und Singapurs zu sehen. Auch leitete er, wenn auch im Hintergrund, eine Sitzung des Politbüros. Von einem völligen Verschwinden aus der Öffentlichkeit kann daher nicht die Rede sein.
Delegation von Macht – Zeichen der Schwäche oder Ausdruck strategischer Führung?
Ein weiterer Stein im Mosaik der Spekulationen ist die Einführung neuer parteiinterner Koordinierungsregeln, die laut Berichten aus Hongkong eine stärkere Zuständigkeit technokratischer Gremien und untergeordneter Führungsebenen ermöglichen. Einige Beobachter deuten dies als Auftakt eines geordneten Machtübergangs, möglicherweise zugunsten jüngerer Kader oder im Angesicht gesundheitlicher Probleme Xis.
Doch diese Interpretation ist keineswegs zwingend. In der Geschichte autoritärer Systeme bedeutet Dezentralisierung nicht automatisch Machtverlust, sondern kann ebenso gut der effizienteren Kontrolle dienen. Der Aufbau paralleler Entscheidungsstrukturen unter Xi war stets ein Mittel zur Ausgrenzung rivalisierender Fraktionen – nicht zu deren Stärkung.
Umbrüche im Militär – systeminterne Säuberung oder Ausdruck wachsender Loyalitätsprobleme?
Die chinesische Volksbefreiungsarmee durchlebt seit Monaten tiefgreifende personelle Umwälzungen. Hochrangige Offiziere, darunter Admirale und Generäle mit enger Verbindung zu Xi, wurden entlassen oder versetzt. Insbesondere die Entfernung von Admiral Miao Hua, einem langjährigen Vertrauten Xis, hat Beobachter aufhorchen lassen.
Diese Entwicklungen könnten auf interne Machtkämpfe hindeuten. Wahrscheinlicher ist jedoch ein Fortgang der seit Jahren laufenden Loyalitäts- und Antikorruptionskampagnen, mit denen Xi seinen Einfluss auf das Militär konsolidierte. Dass dabei auch enge Vertraute entmachtet werden, mag erstaunen, ist aber typisch für Systeme, in denen Loyalität keine Einbahnstraße ist.
Ökonomische Malaise als politischer Katalysator?
Die wirtschaftliche Lage der Volksrepublik verschärft die Lage: Der Immobiliensektor ist weiterhin tief in der Krise, das Wachstum schwächelt, die Jugendarbeitslosigkeit bleibt hoch. Die öffentliche Stimmung trübt sich. In einem System, das seine Legitimität nicht aus demokratischer Wahl, sondern aus wirtschaftlichem Erfolg und nationalem Prestigedenken schöpft, stellen solche Entwicklungen eine ernsthafte Herausforderung dar.
Dennoch: Die Geschichte autoritärer Regime zeigt, dass wirtschaftliche Krisen nur dann zu Machtverlusten führen, wenn sie mit struktureller Führungsschwäche einhergehen – etwa einem Verlust der Kontrolle über Partei, Armee oder Sicherheitsapparate. Davon kann gegenwärtig keine Rede sein.
Ein geordneter Übergang? Wunschbild oder Realoption?
Einige Stimmen sehen in den jüngsten Entwicklungen Anzeichen eines von Xi selbst vorbereiteten Machtwechsels – etwa an Premier Li Qiang oder andere Technokraten mit parteipolitischer Hausmacht. Tatsächlich wird die Sichtbarkeit einiger Kader aus dem sogenannten „Hu-Lager“ – benannt nach dem früheren Präsidenten Hu Jintao – größer. Doch auch dies könnte Täuschung sein: Die gezielte Integration gegnerischer Strömungen ist ein bewährtes Mittel, um Opposition zu neutralisieren.
Fazit: Stabilität im Wandel – aber kein Machtverfall
Die Gerüchte um eine Entmachtung Xi Jinpings speisen sich aus realen Veränderungen innerhalb des chinesischen Führungssystems. Die Unsichtbarkeit des Präsidenten, militärische Umbauten und strukturelle Neuordnungen im Parteiapparat sind Ausdruck einer Phase erhöhter Nervosität und vielleicht auch vorsichtiger Reorientierung. Doch eine formale Schwächung Xis ist bislang nicht belegbar. Er behält alle entscheidenden Ämter, verfügt über die Kontrolle der innerparteilichen Disziplin, des staatlichen Gewaltmonopols und des ideologischen Apparats.
Solange keine klaren Hinweise auf eine institutionalisierte Machtübergabe, einen offenen Konflikt innerhalb der KPCh oder eine fundamentale Kurskorrektur vorliegen, bleiben Gerüchte über eine „Entmachtung“ vor allem eines: Spekulation. Gleichwohl zeigt die aktuelle Entwicklung, dass selbst in einem autoritären System keine Machtposition absolut ist. Xi Jinping bleibt einstweilen der unangefochtene Herrscher – doch das chinesische Politbüro bereitet sich möglicherweise auf eine Zeit nach ihm vor. Wie weit dieser Prozess bereits fortgeschritten ist, bleibt das bestgehütete Geheimnis der Volksrepublik.