Erstes wirtschaftspolitisches Symposium des BMWE – Soziale Marktwirtschaft in Zeiten des Umbruchs
Katherina Reiche nutzt ihre Grundsatzrede, um einen selten so offen formulierten Befund über Deutschlands wirtschaftlichen Zustand vorzulegen: Die Bundesrepublik steht nicht vor einer zyklischen Delle, sondern inmitten einer strukturellen Krise. Die Ministerin benennt ohne Umschweife hausgemachte Fehlentwicklungen – von überbordender Regulierung über die Demografie bis hin zu Energie- und Standortkosten – und verbindet sie mit einer klar ordnungspolitischen Leitidee: Eine Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Prinzipien ist Voraussetzung, um Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit und fiskalische Stabilität wiederherzustellen.
Die Rede folgt einer ordnungspolitischen Logik, die in Berlin lange in den Hintergrund geraten war. Reiche setzt fünf Achsen: mehr wirtschaftliche Freiheit und Eigenverantwortung, tragfähige Staatsfinanzen, stärkere Aufstiegschancen, die Verbindung von ökonomischer mit sicherheitspolitischer Resilienz und ein europäischer Binnenmarkt, der endlich seine Größe in ökonomische Schlagkraft übersetzt. Diese Struktur zeigt: Es geht ihr nicht um Einzelmaßnahmen, sondern um einen Richtungswechsel, der den Staat verschlankt, die Wirtschaft stärkt und Europas Standortattraktivität entschlossen verteidigt.
Zugleich verschiebt die Rede das politische Koordinatensystem innerhalb der Union. Reiche stellt sich offen gegen die rentenpolitische Linie des Kanzlers. Ihr Appell an die Generationengerechtigkeit ist nicht rhetorische Folklore, sondern ein frontal vorgebrachter Einspruch gegen den Status quo: Wer die junge Generation mit hohen Beiträgen, schwachen Zukunftsaussichten, angespannten Arbeitsmärkten und untragfähigen Rentenversprechen konfrontiere, beschädige die Legitimation der sozialen Marktwirtschaft. Ihr Ruf nach einer längeren Lebensarbeitszeit ist deshalb kein Tabubruch, sondern die aus ihrer Sicht zwingende Konsequenz aus der demografischen Realität. Damit macht Reiche klar, dass eine nachhaltige Rentenpolitik ohne strukturelle Anpassung nicht möglich ist.
Wirtschaftspolitisch bewegt sich Reiche nah an einer klassischen liberal-konservativen Linie. Sie betont die Notwendigkeit, Regulierung abzubauen, Wachstumshemmnisse zu beseitigen und die Staatsquote wieder auf ein tragfähiges Maß zurückzuführen. Parallel fordert sie eine Öffnung gegenüber technologieoffenen Lösungen in der Energiepolitik und eine sicherheitspolitische Neujustierung der ökonomischen Abhängigkeiten. Dass sie Verteidigungsinnovation und Dual-Use-Investitionen als künftige Wachstumstreiber einordnet, zeigt einen Realismus, der in Europa lange gefehlt hat.
Reiches Diagnose ist hart, aber nicht defätistisch. Ihr Kernargument: Deutschland verfüge weiterhin über Innovationskraft, technologische Kompetenz und industrielles Know-how, doch diese Potenziale würden durch Eigenblockaden untergenutzt. Erst ein durchgreifendes Reformpaket könne die Voraussetzungen schaffen, damit die Wirtschaft wieder selbsttragend wächst und die Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb verlorenes Terrain zurückgewinnt.
Damit markiert die Rede einen selten klaren Versuch, wirtschaftspolitische Programmatik wieder in den Vordergrund zu rücken. Sie ist ein ordnungspolitisches Statement – und zugleich ein politischer Weckruf an eine Regierung, die im Zentrum ihrer eigenen historischen Verantwortung angekommen ist.
