Wer die Vereinigten Staaten von Amerika verstehen will – ihr politisches System, ihre gesellschaftlichen Debatten, ihre Widersprüche und Bruchlinien –, kommt an einem Thema nicht vorbei, das in europäischen Analysen häufig vernachlässigt wird: Religion. Genauer gesagt: die tief verwurzelte, historisch gewachsene und gegenwärtig hochpolitische Rolle des Evangelikalismus. Diese religiöse Strömung durchzieht wie ein roter Faden die amerikanische Identität – von der Siedlerzeit über die Gründerväter bis zur Gegenwart, in der evangelikale Christen eine zentrale Rolle im kulturellen und politischen Diskurs einnehmen.
Ein historischer Sonderfall
Die Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert in ihrem Ersten Zusatzartikel die Trennung von Kirche und Staat – und doch ist das Verhältnis weitaus komplexer. In der Praxis bedeutet diese Trennung nicht die völlige Abwesenheit von Religion im öffentlichen Raum, sondern vor allem, dass der Staat keine offizielle Religion etabliert. Religion ist damit nicht aus der Öffentlichkeit verbannt, sondern ein akzeptierter Bestandteil der politischen Kultur. Dies unterscheidet die USA grundlegend von vielen europäischen Staaten, in denen der Säkularismus oft eine aktiv religionskritische Prägung besitzt.
Anders als in vielen europäischen Staaten, in denen sich mit der Aufklärung ein säkularer Staat entwickelt hat, sind in den USA Religion und Öffentlichkeit nie klar voneinander getrennt gewesen – trotz der verfassungsrechtlich garantierten Trennung von Kirche und Staat. Die USA wurden von puritanischen Siedlern als „neues Israel“ gegründet, als göttlich legitimiertes Experiment. Diese Vorstellung einer göttlichen Auserwählung hat sich tief in das kollektive Selbstverständnis eingeschrieben – in Reden von Präsidenten ebenso wie in der Populärkultur.
Die sogenannten „Great Awakenings“, religiöse Erweckungsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert, stärkten eine individualistische Frömmigkeit, die auf persönlicher Bekehrung, Bibeltreue und Mission beruhte – die Grundlagen des modernen Evangelikalismus. Bis heute ist der Glaube an die persönliche Erlösung durch Jesus Christus, die Irrtumslosigkeit der Bibel und der missionarische Eifer konstitutiv für das Selbstverständnis evangelikaler Christen.
Evangelikale als politische Macht
Spätestens seit den 1970er-Jahren sind Evangelikale nicht mehr nur eine religiöse, sondern auch eine politische Bewegung. Sie formierten sich zur „Christian Right“, einer schlagkräftigen Allianz konservativer Christen, die die kulturellen Umbrüche der 1960er-Jahre – Feminismus, sexuelle Revolution, Säkularisierung – als Bedrohung empfanden. Mit der „Moral Majority“ unter Jerry Falwell fanden sie den Weg in die Parteipolitik und etablierten sich als Rückgrat der Republikanischen Partei.
Ronald Reagan erkannte das Mobilisierungspotenzial dieser Gruppe, George W. Bush inszenierte sich als „wiedergeborener Christ“, und Donald Trump wurde trotz eklatanter Widersprüche zu evangelikalen Moralvorstellungen zum politischen Hoffnungsträger vieler Evangelikaler – weil er ihnen konservative Richter versprach, das Abtreibungsrecht zurückdrängen half und sich rhetorisch gegen „liberale Eliten“ stellte.
Diese Allianz zwischen Evangelikalismus und Politik ist keine Randerscheinung: Bei den Präsidentschaftswahlen 2020 votierten rund 84 % der weißen Evangelikalen für Trump. Ihre politische Agenda beeinflusst Bildungspolitik, reproduktive Rechte, LGBTQ+-Fragen und nicht zuletzt die Außenpolitik, etwa in der Unterstützung für Israel – motiviert durch endzeittheologische Vorstellungen.
In Themenfeldern wie der Todesstrafe, Abtreibung oder der Frage nach der Herkunft des Menschen offenbart sich der tiefgreifende kulturelle Graben zwischen der USA und vielen europäischen Staaten. Während etwa in Deutschland die Todesstrafe als menschenrechtswidrig geächtet ist, befürworten viele Evangelikale deren Beibehaltung – aus einem religiös fundierten Strafverständnis heraus. Ähnlich verhält es sich mit der Ablehnung der Evolutionstheorie: In weiten Teilen der USA – gerade im Bible Belt – wird der Kreationismus als gleichwertige oder überlegene Erklärung zur Herkunft des Menschen gelehrt, oft in bewusster Abgrenzung zu wissenschaftlichem Konsens. Auch das Verhältnis zu Israel ist stark theologisch geprägt: Viele Evangelikale sehen im jüdischen Staat die Erfüllung biblischer Prophetien und unterstützen ihn bedingungslos – ein außenpolitischer Faktor, der rational kaum verständlich scheint, ohne den eschatologischen Hintergrund zu kennen.
Eine gespaltene Bewegung
Gleichzeitig ist der Evangelikalismus keine monolithische Bewegung. Er ist geprägt von internen Spannungen, Generationenkonflikten und einem wachsenden „post-evangelikalen“ Spektrum. Jüngere Gläubige wenden sich ab von der Politisierung des Glaubens, fordern mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Diversität. Bewegungen wie „Sojourners“ oder die „Red Letter Christians“ versuchen, eine progressivere, inklusivere Lesart des Evangeliums zu etablieren.
Nicht zuletzt wächst die Zahl der sogenannten „Exvangelicals“, die sich radikal von der Bewegung abwenden – aus Protest gegen autoritäre Strukturen, moralische Doppelmoral oder religiös verbrämte Intoleranz. Ihre Stimmen prägen zunehmend den Diskurs über religiösen Missbrauch, kirchliche Machtverhältnisse und die Schattenseiten einer rigiden Bibelauslegung.
Warum Europa nicht wegsehen sollte
Für Europa, das sich als weitgehend säkular versteht, mag diese religiöse Durchdringung von Politik und Gesellschaft befremdlich erscheinen. Doch sie ist essenziell für das Verständnis der USA. Wer amerikanische Außenpolitik, Innenpolitik oder gesellschaftliche Debatten analysiert, ohne den Einfluss evangelikaler Weltbilder zu berücksichtigen, operiert mit unvollständigen Erklärungsmodellen.
Die Ablehnung von Abtreibung, der Kulturkampf um Transrechte, die Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Autorität – all das ist nicht allein ideologisch oder parteipolitisch motiviert, sondern tief religiös aufgeladen. Ebenso speisen sich viele Solidaritätsbekundungen mit Israel, aber auch die Mobilisierung gegen „Critical Race Theory“ oder Gender Studies aus einem religiösen Unterbau, der Politik als geistlichen Kampf interpretiert.
Fazit
Die USA sind nicht nur eine ökonomische und militärische Supermacht, sondern auch ein religiös aufgeladener Kulturraum. Der Evangelikalismus ist dabei mehr als eine Glaubensrichtung – er ist ein Deutungssystem, das Wirklichkeit formt, Politik prägt und kulturelle Identitäten stabilisiert oder herausfordert. Wer verstehen will, warum in den USA bestimmte Debatten so geführt werden, wie sie geführt werden, muss auch die Bibel lesen – oder zumindest verstehen, welche Rolle sie in Millionen von Biografien spielt. Denn Religion ist in Amerika keine Privatsache. Sie ist eine gesellschaftliche Realität, die man nicht ignorieren kann, ohne die Realität selbst zu verfehlen.