Der größte Chemiekonzern der Welt verlagert seine Zukunft nach China. Was als Energiekrise begann, entpuppt sich als Menetekel für den Industriestandort Deutschland.
Von Ludwigshafen nach Zhanjiang – diese Verschiebung ist mehr als eine geografische Koordinate. Sie markiert eine historische Zäsur. BASF, 160 Jahre alt und einst Kronjuwel der deutschen Industrie, baut in Südchina für 10 Milliarden Euro ein neues Megawerk. Es ist die größte Investition in der Unternehmensgeschichte. Zur selben Zeit werden in Deutschland Anlagen stillgelegt, Geschäftsbereiche abgestoßen und Tausende Stellen gestrichen.
Der Zeitpunkt hätte symbolträchtiger nicht sein können: Während 2022 in Ludwigshafen die Schornsteine verstummten, eröffnete BASF die erste Produktionsanlage in Zhanjiang – ein exaktes Spiegelbild des Verbundstandorts am Rhein. Das Besondere: kein Joint Venture, kein chinesischer Partner, 100 Prozent BASF. Selbst für Peking ein Prestigeobjekt.
Wenn das Verbundprinzip zur Falle wird
Das Werk in Ludwigshafen war über Jahrzehnte Symbol deutscher Ingenieurskunst: 2.000 Kilometer Rohrleitungen, ein Energieverbrauch fast so groß wie jener der Schweiz, perfekt vernetzt, gespeist mit günstigem russischem Pipelinegas. Doch hinter dieser Fassade lag eine tiefe Verwundbarkeit.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 zerbrach diese Welt über Nacht. Gaspreise schossen in die Höhe – heute viermal so hoch wie in den USA oder China. Rohstoffe wurden doppelt so teuer. Das berühmte Verbundprinzip aus über 200 Anlagen, jahrzehntelang Lehrbuchbeispiel für Effizienz, wurde zur Falle: Wenn ein Glied wie Ammoniak oder Acetylen stoppt, reißt die gesamte Kette. Rund ein Fünftel des Anlagenparks gilt seither als nicht mehr wettbewerbsfähig.
Die unbequeme Wahrheit: Es geht nicht nur um Kosten
Der Kostenjammer ist nur die halbe Wahrheit. Im Jahr 2010 lag die Wirtschaftsleistung von EU und USA noch gleichauf bei jeweils rund 15 Billionen Euro. China kam mit knapp 6 Billionen auf weniger als die Hälfte. Heute zieht Peking gleich – 19 Billionen Euro Wirtschaftsleistung, genauso viel wie Europa.
Wenn heute fast jede zweite Chemikalie in China produziert wird, dann nicht nur, weil die Produktion dort billiger ist, sondern weil dort der Markt wächst. Die chemische Industrie folgt ihrer Nachfrage – und die ist längst nach Osten gewandert.
Schrumpfkur statt Wachstumsstrategie
In Deutschland begann der radikale Umbau. Martin Brudermüller, langjähriger CEO und ironischerweise jener Mann, der das China-Projekt eingefädelt hatte, wurde zum Antihelden seiner eigenen Erfolgsgeschichte. Ganze Produktionslinien mussten schließen: Ammoniak, Caprolaktam, CDI. Das Geschäft mit Farben und Lacken – 10.000 Beschäftigte, 3,8 Milliarden Euro Umsatz – soll für rund 7 Milliarden Euro an den Finanzinvestor Carlyle verkauft werden.
Markus Kamieth, seit Mitte 2024 neuer Vorstandsvorsitzender, will auch Batterie- und Agrarchemie ausgliedern. Neues Motto: Weniger Masse, mehr Marge. Doch die Schrumpfkultur allein bringt keine Wettbewerbsfähigkeit zurück.
Die brisanteste chemische Gleichung unserer Zeit
In Zhanjiang sind mittlerweile die meisten Anlagen in der Inbetriebnahmephase. Anfang nächsten Jahres könnte der vernetzte Chemiekreislauf anlaufen – befeuert von einem 15-Jahres-Gasdeal mit dem chinesischen Energieanbieter INNergy.
Die Ironie der Geschichte: Während Europa gerade schmerzhaft lernte, wie gefährlich Abhängigkeiten von Autokratien sind, eröffnete BASF sein größtes Zukunftsprojekt ausgerechnet in einem autokratischen System. Was bleibt, ist das Risiko – eine Abhängigkeit diesmal nicht von Russland, sondern von China. Die vielleicht brisanteste chemische Gleichung unserer Zeit.
Die Chemiebranche baut ab. Die Liste der Werkschließungen liest sich wie das Inhaltsverzeichnis der ganzen Industrie: BASF, INEOS, Bayer, Dow, Evonik. Die Auslastung deutscher Unternehmen lag im vergangenen Jahr bei durchschnittlich 71 Prozent. Die Rentabilitätsschwelle liegt bei 82 Prozent. Was bei BASF passiert, ist Menetekel für den gesamten Industriestandort Deutschland.