Bevölkerung in Bewegung: Die eidgenössische Auswanderung nach Südwestdeutschland in der Frühen Neuzeit

Die Geschichte der alten Eidgenossenschaft ist in der Frühen Neuzeit (ca. 1500–1800) nicht allein von innenpolitischer Fragmentierung und konfessioneller Spaltung geprägt, sondern in auffälliger Weise auch durch eine ausgeprägte Migrationsdynamik. Zwischen dem 16. und späten 18. Jahrhundert verließen Hunderttausende von Menschen das Gebiet der heutigen Schweiz – getrieben von wirtschaftlicher Not, demographischem Druck, religiöser Unsicherheit und politischen Erwägungen. Diese Migration war kein randständiges Phänomen, sondern ein konstitutives Element eidgenössischer Sozialgeschichte. Hauptziel der Auswanderer war der Südwesten des Heiligen Römischen Reichs, insbesondere die Kurpfalz, das Herzogtum Württemberg und die Markgrafschaft Baden – Territorien, die nach dem Dreißigjährigen Krieg massiv unter Bevölkerungsverlusten litten.

Ursachen der Migration: Wirtschaftlicher Druck und konfessionelle Spannungen

Die Ursachen dieser anhaltenden Auswanderung sind vielschichtig. Ab dem 16. Jahrhundert verzeichnete die Eidgenossenschaft ein starkes Bevölkerungswachstum, das die agrarische Produktionsbasis zunehmend überforderte. Besonders in höheren Lagen, wo sich die Viehzucht als dominante Wirtschaftsform herausbildete, führte dies zu struktureller Unterbeschäftigung. Periodische Teuerungskrisen, wie in den extremen Wintern 1708/09 und 1709/10 oder während der Hungerjahre 1770/71, verschärften die Lage zusätzlich. Es kam zu massiven Auswanderungswellen – nicht nur der Ärmsten, sondern auch von heiratswilligen jungen Menschen und selbst von wohlhabenden Familien. Auch der Wehrdienstzwang, etwa in fremden Diensten, galt vielen jungen Männern als Grund zur Emigration.

Konfessionelle Konflikte spielten ebenfalls eine entscheidende Rolle. Nach der Reformation war die Eidgenossenschaft in katholische und reformierte Gebiete gespalten. Viele Auswanderer waren Protestanten, die in den protestantisch geprägten deutschen Nachbarterritorien Zuflucht und neue Lebensperspektiven suchten. Die Kurpfalz etwa galt im 16. und frühen 17. Jahrhundert als Aufnahmeland für niederländische und französische Glaubensflüchtlinge, was ihren Ruf als tolerantes und attraktives Siedlungsgebiet festigte.

Die Peuplierungspolitik deutscher Fürsten: Zuwanderung als Staatsziel

Die massive Zuwanderung war jedoch nicht nur Ergebnis eidgenössischer Notlagen, sondern auch Folge gezielter Siedlungspolitiken der südwestdeutschen Herrschaften. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) hatte in Teilen des Reichs eine katastrophale Entvölkerung zur Folge – einzelne Regionen verloren bis zu 40 Prozent ihrer Bevölkerung. Um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer Territorien wiederherzustellen, betrieben die Fürsten eine bewusste „Peuplierungspolitik“: Sie warben gezielt neue Siedler an – bevorzugt protestantisch, arbeitsam und mit einem Mindestvermögen ausgestattet. In Brandenburg-Preußen wurden nach dem Edikt von Potsdam (1685) rund 20.000 Hugenotten angesiedelt. König Friedrich II. setzte diese Politik fort, ließ schätzungsweise bis zu 300.000 Kolonisten ins Land holen und gründete etwa 900 bis 1.000 neue Dörfer.

Dieses Modell inspirierte auch andere Reichsfürsten. Die Kurpfalz, Württemberg und Baden übernahmen zentrale Elemente dieser Anwerbepolitik und richteten ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf eidgenössische Siedler. Die geografische Nähe zur Schweiz, die konfessionelle Affinität und der Ruf als aufnahmebereite Regionen trugen dazu bei, dass sich ein stabiler Migrationskorridor etablierte. Das katholisch geprägte Bayern hingegen spielte aufgrund konfessioneller Divergenzen eine untergeordnete Rolle als Zielgebiet.

Militärische und zivile Auswanderung: Ein demographischer Aderlass

Die eidgenössische Auswanderung war sowohl zivil als auch militärisch geprägt. Für das 17. Jahrhundert geht man davon aus, dass bis zu 25 % der über 16-jährigen Männer in fremden Diensten standen – ein beeindruckender Anteil, der die ökonomische Verwundbarkeit kleiner Gemeinden deutlich macht. Im 18. Jahrhundert sank dieser Anteil auf 10–15 %, blieb aber dennoch beträchtlich.

Auch die zivile Emigration nahm beachtliche Ausmaße an: Für die Regionen Elsass und Freigrafschaft Burgund wird zwischen 1660 und 1740 eine Zahl von 15.000 bis 20.000 eidgenössischen Migranten geschätzt – hinzu kommt eine große, kaum bezifferbare Zahl an Siedlern, die in die Pfalz, nach Württemberg und Baden zogen. Genaue Zahlen sind kaum zu ermitteln, da es keine zentrale Erfassungsstelle gab und die Registrierung lokal erfolgte.

Lokale Identität und dezentrale Verwaltung

Ein wesentlicher Faktor zur Erklärung der Migrationsrealität ist die politische Struktur der alten Eidgenossenschaft selbst. Die Eidgenossenschaft war kein Nationalstaat im modernen Sinne, sondern ein föderativer Bund von weitgehend autonomen Kantonen. Die Zugehörigkeit des Einzelnen war primär auf Gemeindeebene definiert. Das sogenannte Mannrecht – das kommunale Bürgerrecht – bestimmte Zugang zu sozialen, politischen und ökonomischen Rechten. Es konnte vererbt, verkauft oder aufgegeben werden, ohne dass der Wohnsitz verändert werden musste. Eine bedeutende Quelle für die Auswanderungspraxis ist der sogenannte „Rodel weggezogener Mannrechten“ aus dem Kanton Bern (1694–1754), der dokumentiert, wer sein Bürgerrecht formell ablegte – ein Indiz für endgültige Abwanderung.

Bemerkenswert ist dabei eine terminologische Besonderheit: In den Quellen bedeutet die Wendung „in das Niederland gezogen“ nicht zwangsläufig die Emigration in die heutigen Niederlande, sondern bezog sich auf rheinabwärts gelegene Gebiete wie das Elsass oder die Kurpfalz.

Fazit

Die eidgenössische Auswanderung in der Frühen Neuzeit war ein komplexes Zusammenspiel struktureller Notlagen, individueller Handlungsstrategien und staatlicher Siedlungspolitik. Sie war keine einseitige Geschichte des Elends, sondern auch ein Ausdruck pragmatischer Lebensplanung und bewusster Zukunftsgestaltung. Die deutschen Aufnahmegebiete profitierten langfristig von der Zuwanderung – ökonomisch, sozial und kulturell. Für die Eidgenossenschaft bedeutete der Verlust insbesondere an jungen, arbeitsfähigen Menschen jedoch einen erheblichen demographischen Aderlass.

Was sich daraus lernen lässt, ist die historische Tiefe und strategische Dimension von Migrationsbewegungen – sie sind weder neuzeitliche noch rein humanitäre Phänomene, sondern Teil staatlicher Ordnungsbildung, konfessioneller Identitätskämpfe und wirtschaftlicher Machtpolitik. Wer Migration verstehen will, muss über Grenzen hinausdenken – sowohl geografisch als auch historisch.


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