Die Finanzkrise von 2008 markierte für Island einen Wendepunkt. Das Land, das einst stark auf ein wachstumsorientiertes Wirtschaftsmodell setzte, erkannte die Grenzen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als alleinigen Erfolgsmaßstab. Island begann, eine „Wellbeing Economy“ (Ökonomie des Wohlergehens) aufzubauen, die das Wohlbefinden der Bevölkerung, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit priorisiert. Dieser Ansatz stellt einen radikalen Bruch mit traditionellen wirtschaftlichen Paradigmen dar und positioniert Island als internationalen Vorreiter. Im Folgenden wird dieser Transformationsprozess detailliert analysiert, einschließlich seiner Mechanismen, Herausforderungen und globalen Bedeutung.
Neu definierte Erfolgsmetriken: Jenseits des BIP
Die zentrale Innovation der Wellbeing Economy liegt in der Abkehr vom BIP als primärem Erfolgsindikator. Unter der Leitung von Premierministerin Katrín Jakobsdóttir entwickelte eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe 39 Indikatoren, die drei Kernbereiche abdecken: soziale Gerechtigkeit, Umwelt und Ökonomie. Diese Indikatoren umfassen:
- Soziale Aspekte: Zugang zu psychischer Gesundheit, bezahlbarem Wohnraum, Bildungsgleichheit, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
- Umweltfaktoren: Reduktion von Treibhausgasemissionen, Schutz der Biodiversität, Nutzung erneuerbarer Energien und nachhaltige Landnutzung.
- Ökonomische Dimensionen: Innovationsförderung, nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Einkommensgleichheit.
Diese Indikatoren werden regelmäßig überprüft und an aktuelle Entwicklungen angepasst, um eine dynamische und praxisnahe Messung des Wohlbefindens zu gewährleisten. Sie bilden die Grundlage für politische Entscheidungen und ermöglichen eine transparente Bewertung staatlicher Maßnahmen.
Strategische Integration in die Regierungspolitik
Seit 2019 orientiert sich Islands Haushalts- und Finanzplanung an sechs prioritären Zielen, die direkt aus den Indikatoren abgeleitet sind:
- Psychische Gesundheit: Förderung von Präventionsprogrammen und Zugang zu psychologischer Unterstützung, insbesondere für Jugendliche.
- Sicheres Wohnen: Maßnahmen gegen Wohnungsnot und Förderung erschwinglicher Miet- und Eigentumswohnungen.
- Work-Life-Balance: Flexible Arbeitsmodelle, Elternzeitregelungen und Unterstützung für Familien.
- Klimaneutralität: Ambitionierte Ziele zur Emissionsreduktion, unterstützt durch den Ausbau von Geothermie und Wasserkraft.
- Innovationswachstum: Investitionen in nachhaltige Technologien und Start-ups, die soziale und ökologische Ziele verfolgen.
- Öffentliche Kommunikation: Transparente Berichterstattung über Fortschritte und Herausforderungen, um das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken.
Diese Prioritäten sind nicht nur Leitlinien, sondern werden durch konkrete Gesetzesinitiativen und Budgetzuweisungen operationalisiert. Ein herausragendes Beispiel ist das Gesetz zur Lohngleichheit von 2018, das Unternehmen verpflichtet, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit nachzuweisen. Dieses Gesetz gilt als europaweiter Maßstab und verknüpft soziale Gerechtigkeit direkt mit wirtschaftlicher Produktivität.
Umwelt als Katalysator der Transformation
Die Umweltkrise war ein entscheidender Treiber für Islands Kurswechsel. Der Verlust des Okjökull-Gletschers 2019, der erste Gletscher Islands, der aufgrund der Klimakrise vollständig verschwand, wurde zum Symbol für die Dringlichkeit einer nachhaltigen Wirtschaft. Island nutzt seine natürlichen Ressourcen – insbesondere Geothermie und Wasserkraft – konsequent, um eine nahezu kohlenstofffreie Energieversorgung zu gewährleisten. Über 99 % des Stroms stammen aus erneuerbaren Quellen, was Island zu einem Vorbild für die grüne Transformation macht. Gleichzeitig setzt das Land auf Wiederaufforstung, Meeresschutz und nachhaltige Fischerei, um die Biodiversität zu bewahren.
Globale Vernetzung und Wissensaustausch
Island ist seit 2018 Mitglied der Wellbeing Economy Alliance (WEAll), einem internationalen Netzwerk, das Länder wie Schottland, Neuseeland und Wales umfasst. Diese Mitgliedschaft ermöglicht den Austausch bewährter Praktiken und stärkt Islands Position als Vorreiter. Durch die Teilnahme an globalen Konferenzen und die Veröffentlichung von Fortschrittsberichten trägt Island dazu bei, die Idee einer Wellbeing Economy weltweit zu verbreiten. Gleichzeitig profitiert das Land von den Erfahrungen anderer Nationen, etwa Neuseelands Ansatz zur Integration indigener Werte in wirtschaftliche Rahmenbedingungen.
Herausforderungen der Transformation
Trotz der Fortschritte steht Island vor erheblichen Herausforderungen:
- Kultureller Wandel: Die Abkehr von traditionellen wirtschaftlichen Denkweisen erfordert einen gesellschaftlichen Konsens, der Zeit und Überzeugungsarbeit benötigt.
- Messbarkeit: Die 39 Indikatoren sind komplex und erfordern eine präzise Datenerhebung sowie eine verständliche Kommunikation der Ergebnisse.
- Globale Abhängigkeiten: Als kleines Land ist Island von internationalen Märkten und geopolitischen Entwicklungen abhängig, was die Umsetzung nachhaltiger Maßnahmen erschweren kann.
- Langfristigkeit: Die Transformation ist ein generationenübergreifendes Projekt, das kontinuierliche politische Unterstützung und Ressourcen erfordert.
Die Regierung arbeitet daran, diese Herausforderungen durch partizipative Ansätze zu bewältigen, etwa durch öffentliche Konsultationen und die Einbindung von NGOs und Wissenschaft.
Island als globales Vorbild
Islands Ansatz hat international Aufmerksamkeit erregt. Länder wie Schottland und Finnland orientieren sich an ähnlichen Modellen, während internationale Organisationen wie die OECD Islands Indikatoren als Blaupause für alternative Wohlfahrtsmetriken betrachten. Besonders die Verbindung von ökologischer Nachhaltigkeit mit sozialer Gerechtigkeit macht Island zu einem Modell für eine zukunftsfähige Wirtschaft. Die erfolgreiche Nutzung erneuerbarer Energien und die konsequente Förderung von Geschlechtergleichheit sind dabei zentrale Bausteine, die andere Nationen inspirieren.
Fazit: Ein Paradigmenwechsel mit globaler Relevanz
Islands Weg zur Wellbeing Economy ist mehr als eine nationale Reform – es ist ein Versuch, die Grundlagen moderner Wirtschaftspolitik neu zu definieren. Indem das Land Wohlbefinden, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz in den Mittelpunkt stellt, zeigt es, dass Wachstum und Wohlstand nicht zwangsläufig auf Kosten von Mensch und Natur gehen müssen. Trotz der Herausforderungen bietet Islands Modell wertvolle Lehren für eine Welt, die nach nachhaltigen und gerechten Lösungen sucht. Mit seiner globalen Vernetzung und seinem Engagement für Transparenz setzt Island Maßstäbe für eine Wirtschaft, die nicht nur Zahlen, sondern das Leben selbst in den Fokus rückt.