Prävention oder Aggression – Warum Israels potenzieller Schlag gegen den Iran anders bewertet wird als Russlands Krieg in der Ukraine

Die Frage nach den scheinbar doppelten Maßstäben berührt drei Ebenen: das positive Völkerrecht, die Plausibilität der Gefahren­einschätzung und die politische Wirklich­keit von Bündnissen und Wahr­nehmungen. Eine saubere Unterscheidung dieser Ebenen hilft, die Diskrepanz zwischen der begrüßten israelischen Präventiv­operation gegen iranische Nuklear­anlagen und der nahezu einhelligen Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine zu erklären – ohne dabei die existierenden Doppel­standards zu kaschieren.

Begriffsklärung und Rechtslage
Die UN-Charta verbietet nach Art. 2 Abs. 4 grundsätzlich jede Gewalt­androhung oder Gewaltanwendung, erlaubt aber nach Art. 51 das Selbst­verteidigungs­recht, „wenn ein bewaffneter Angriff erfolgt“. Die Völker­rechts­lehre hat daraus das Konzept der präemptiven Selbstverteidigung entwickelt: Sie ist nur zulässig, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht und weder abwendbar noch aufschiebbar ist – die klassischen „Caroline-Kriterien“ der Not­wendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Präventiv-kriege dagegen, die eine entfernte, lediglich abstrakte Gefahr ausschalten sollen, gelten als illegal.

Fall Israel / Iran
Israels Befürworter führen an, das iranische Atomprogramm stelle eine existentielle Bedrohung dar: Sollte Teheran die Atombombe erlangen, könne es die Vernichtung Israels erzwingen oder abschrecken, während dessen Territorium kaum strategische Tiefe biete. Historisch verweist man auf „Operation Opera“ von 1981, als Israel den irakischen Reaktor Osirak zerstörte – ein Schlag, der allerdings vom Sicherheitsrat in Resolution 487 einstimmig verurteilt wurde. Seither hat sich eine inoffizielle „Begin-Doktrin“ herausgebildet: kein potenzieller Nuklear­gegner im Nahen Osten darf die Schwelle überschreiten. Dessen ungeachtet bliebe ein Angriff auf iranische Anlagen auch heute rechtlich problematisch, weil die Imminenz – also die Unmittelbarkeit der Gefahr – schwer nachweisbar ist und diplomatische Alternativen wie Verhandlungen oder IAEA-Kontrollen zur Verfügung stehen.

Fall Russland / Ukraine
Moskau rechtfertigte den Angriff vom 24. Februar 2022 mit dem angeblichen Genozid an Russen im Donbas und einer präventiven Abwehr der NATO-Expansion. Der Internationale Gerichtshof sieht jedoch keinerlei Belege für einen ukrainischen Genozid, hat Russlands Vorbringen als unbegründet zurückgewiesen und Untersuchungsklage zugelassen. Die UN-Generalversammlung stellte den Angriff zudem in der außerordentlichen Sitzung ES-11 als „Akt der Aggression“ fest und forderte den Rückzug russischer Truppen. Im Unterschied zur israelischen Einzelfall-Option gegen spezifische Ziele führte Russland einen umfassenden Landkrieg mit dem erklärten Ziel, Regierung und Territorium der Ukraine zu unterwerfen – jenseits jeder engen Selbstverteidigungslogik.

Warum die Bewertungen auseinander­gehen
Imminenz & Evidenz: Israel könnte – ob man das Argument teilt oder nicht – plausibel eine unmittelbar drohende Nuklear­bewaffnung ins Feld führen. Russland legte für seine Genozid-Behauptung keine belastbaren Beweise vor; die NATO-Option der Ukraine war politisch, nicht operativ.
Proportionalität & Zielsetzung: Ein punktueller Luftschlag gegen Reaktorblöcke unterscheidet sich rechtlich und faktisch von einer Invasion, die ganze Städte einkreist und Gebiete annektiert.
Territorialer Umfang: Selbst wenn ein israelischer Angriff völkerrechtswidrig wäre, berührte er nur einzelne Anlagen. Russland besetzte weite Teile eines souveränen Staates und änderte Grenzen mit Gewalt.
Alternativen: Gegen Iran existiert ein multilaterales Nuklearabkommen (JCPOA) und ein etabliertes IAEA-Inspektions­regime; Russland wies diplomatische Optionen – Minsk-Prozess, Normandie-Format – bewusst zurück.
Staaten­praxis & politische Allianzen: Westliche Staaten sind sicherheits­politisch enger mit Israel als mit Russland verbunden. Das beeinflusst Narrative, Medien­aufmerksamkeit und letztlich Sanktionen – ein klassisches Muster selektiver Empörung.

Kritische Würdigung
Aus streng juristischer Sicht bleibt sowohl ein israelischer Präventiv­schlag als auch der russische Einmarsch illegal, sofern die Caroline-Schwelle nicht überschritten wird. Die asymmetrische Reaktion der Staatengemeinschaft verweist weniger auf schlüssige Rechts­unterscheidungen als auf Macht­politik und normative Doppel­standards. Gerade deshalb sollte man die Diskussion nicht in moralischen Schwarz-Weiß-Kontrasten erstarren lassen, sondern auf die harten Kriterien von Imminenz, Evidenz und Verhältnismäßigkeit pochen – und genau dort unterscheiden sich die beiden Fälle substantiell.


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