Die Drucksache 21/655 ist eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im „Deutschen Fortschrittsbericht 2025“. Sie unterstellt der Bundesregierung widersprüchliche und ineffektive Maßnahmen insbesondere im Bereich der Migration, Arbeitsmarktintegration und Produktivitätsentwicklung. Im Zentrum der Kritik stehen vermeintliche Fehlentwicklungen, die aus Sicht der Fragesteller auf eine falsche Priorisierung der Migrationspolitik zurückzuführen seien.
Trotz eines Höchststands bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist die Arbeitslosenquote gestiegen. Der Beschäftigungszuwachs basiert nahezu ausschließlich auf ausländischen Arbeitskräften, während die Arbeitsproduktivität sowohl 2023 als auch im Jahr 2024 rückläufig war.
In der Tat handelt es sich beim Fakt nach dem gleichzeitigen Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und der Zunahme der Arbeitslosigkeit bei rückläufiger Arbeitsproduktivität um ein hochrelevantes und komplexes Problemfeld – und um eine der wenigen Stellen in der Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion, die eine ernstzunehmende wirtschaftspolitische Analyse herausfordert.
Warum?
Weil sie drei scheinbar widersprüchliche Makroindikatoren kombiniert:
- Beschäftigungshöchststand:
Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist gestiegen – dies wäre zunächst als positives Signal zu interpretieren, das auf wirtschaftliche Stabilität oder Expansion hindeutet. - Steigende Arbeitslosenquote:
Gleichzeitig wächst jedoch die Zahl der registrierten Arbeitslosen. Das widerspricht der Erwartung, dass mehr Beschäftigung zu weniger Arbeitslosigkeit führen sollte. - Sinkende Arbeitsproduktivität:
Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität – also der Output pro Arbeitsstunde – ist zurückgegangen, obwohl mehr Menschen beschäftigt sind.
Wie lässt sich dieses Paradox erklären?
Eine plausible Erklärung erfordert die Berücksichtigung mehrerer Faktoren:
- Struktureller Wandel am Arbeitsmarkt:
Der Zuwachs an Beschäftigung erfolgt vornehmlich in Sektoren mit geringer Wertschöpfung (z. B. Logistik, Pflege, einfache Dienstleistungen), in denen viele Tätigkeiten keinen hohen Produktivitätszuwachs ermöglichen. Dadurch steigt zwar die Zahl der Beschäftigten, aber nicht zwangsläufig die ökonomische Leistung pro Kopf oder Stunde. - Teilzeit und prekäre Beschäftigung:
Der Beschäftigungsanstieg kann stark durch Teilzeitjobs, Minijobs oder kurzfristige Beschäftigung geprägt sein. Diese tragen zur statistischen Beschäftigung bei, ohne die gesamtwirtschaftliche Leistung entscheidend zu erhöhen. Gleichzeitig führen unzureichende Einkommen aus solchen Beschäftigungen dazu, dass Menschen sich zusätzlich arbeitslos melden (Stichwort: „Aufstocker“). - Demografie und Migration:
Der Zuwachs durch ausländische Arbeitskräfte ist vor allem in Helfer- und Anlerntätigkeiten zu beobachten, was kurzfristig die Produktivität senkt, solange keine flankierenden Qualifizierungsmaßnahmen greifen. Gleichzeitig verlassen gut qualifizierte deutsche Fachkräfte das Land oder reduzieren ihre Arbeitszeit (etwa aus familiären Gründen), was den Effekt verstärken kann. - Statistische Effekte und Verwerfungen:
Auch methodische Unterschiede zwischen Erhebungen der Beschäftigtenzahlen und der Arbeitslosenquote (z. B. Erfassung nach Haupt- versus Nebenbeschäftigung oder verschiedene Zeitpunkte) können temporär zu scheinbaren Widersprüchen führen.
Kritische Würdigung:
Die AfD-Fraktion deutet diese Entwicklung monokausal als Beleg für eine gescheiterte Migrationspolitik. Doch die Gleichung „mehr Ausländer = weniger Produktivität“ greift zu kurz. Die Realität ist komplexer: Ein angespanntes Bildungs- und Qualifizierungssystem, demografische Alterung, technologische Umbrüche und eine nachlassende Investitionstätigkeit in Produktivitätssteigerung spielen mindestens eine ebenso große Rolle. Auch die institutionelle Ausgestaltung des Sozialstaates beeinflusst die Erwerbsanreize und das Zusammenspiel von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit erheblich.
Fazit:
Die Frage trifft einen neuralgischen Punkt der deutschen Arbeitsmarktpolitik und ist – jenseits parteipolitischer Intentionen – geeignet, eine fundierte Debatte über die Qualität von Beschäftigung, die Integration von Migranten in wertschöpfungsstarke Tätigkeiten und die volkswirtschaftliche Gesamtstrategie zur Produktivitätssteigerung anzustoßen. Eine isolierte Schuldzuweisung an die Migration jedoch bleibt analytisch unzureichend.
Die Antwort der Bundesregierung auf diese Kleine Anfrage wird aufschlussreich sein. Sie steht vor der Herausforderung, vielschichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamiken sachlich zu erklären, ohne den Eindruck von Beschönigung oder ideologischer Abwehrhaltung zu erwecken.
Besonders spannend wird sein, ob und wie die Regierung auf das Zusammenspiel von Migration, Qualifikationsstruktur, Produktivität und sozialstaatlicher Tragfähigkeit eingeht – und ob sie bereit ist, auch unbequeme Entwicklungen offen zu benennen. Entscheidend wird zudem, inwieweit sie konkrete Strategien zur Stärkung der inländischen Erwerbspotenziale und zur gezielten Integration von Zuwanderern in produktive Beschäftigung skizzieren kann.
Wir dürfen gespannt sein, ob die Antwort eine politische Verteidigungsschrift bleibt oder zur Grundlage einer sachorientierten Auseinandersetzung mit einem der drängendsten Probleme des deutschen Arbeitsmarkts wird.